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Obwalden

Vor den Obwaldner Richterwahlen kommt Licht ins Dunkel

Das Kantonsgericht hat die umstrittenen Fallzahlen der Präsidien veröffentlicht. Die Akteure interpretieren sie ganz unterschiedlich.
Das Gerichtsgebäude in Sarnen. (Bild: Corinne Glanzmann (Sarnen, 21. Januar 2020))

Franziska Herger

Lange war nicht klar, was rund um die Richterwahlen vom Sonntag, 9. Februar in Obwalden Sache ist (wir berichteten): Wegen der seit Jahren hohen Pendenzenlast im Kantonsgerichtspräsidium (KGP) II werfen die Parteien dem Kantonsgerichtspräsidenten II Roland Infanger Überforderung vor und haben eine Gegenkandidatin aufgestellt. Infanger, der seit Mitte 2013 im Amt ist, widerspricht, das Problem liege in der Fallverteilung: Sein Präsidium habe mit Abstand am meisten Fälle zu beurteilen. Was stimmt, war für die Wähler nicht klar, da die Fallzahlen und Pendenzen, nach Gerichtspräsidium aufgeschlüsselt, seit 2013 nicht mehr publiziert werden.

Doch nun kommt etwas Licht ins Dunkel: Das Einsichtsgesuch in die Fallverteilung zwischen den Präsidien von Kantonsrat Mike Bacher (CVP/Engelberg) wurde gutgeheissen, die entsprechende Verfügung ist samt Fallzahlen auf der Gerichtskanzlei einsehbar. Sie zeigt zweierlei: Das Präsidium II hat über die letzten Jahre die höchsten Pendenzen verbucht. Gleichzeitig erhielt es mit Abstand am meisten Fälle im Jahr, selbst unter Einbezug derjenigen, die sich die Präsidien I und III teilen.

Kantonsgericht: Fallzahlen allein sagen wenig aus

Der zuständige Kantonsgerichtsvizepräsident begründet die Herausgabe der Zahlen mit deren früheren Veröffentlichung: Es spreche nichts dagegen, analog den früheren Amtsberichten über die Rechtspflege auch für die Jahre ab 2014 die Fallverteilung bekannt zu geben. Zudem hätten sich alle Kantonsgerichtspräsidenten mit der Veröffentlichung einverstanden erklärt. Wie Lorenz Burch (KGP I) und Monika Omlin (KGP II) in ihren Stellungnahmen zum Gesuch verlangt hatten, liefert der Vizepräsident mit den Fallzahlen jedoch auch relativierende Faktoren: Erstens seien nicht alle Fälle mit gleich viel Aufwand verbunden. Und zweitens gebe es bei der Fallerledigung auch gerichtsinterne organisatorische Unterschiede, etwa die zur Verfügung stehenden Stellen sowie Arbeitspensen und Ausfälle.

Und auch das Kantonsgericht selber relativiert in einer Mitteilung. Die Fallzahlen sagten noch nichts über den Umfang und die Komplexität eines Verfahrens aus. Ordentliche Verfahren seien aufwendig und lang, mit mehreren Schriftenwechseln, mindestens einer Gerichtsverhandlung und aufwendigen Beweisabnahmen. Typische Fälle seien strittige Scheidungen sowie Zivilprozesse mit einem Streitwert von über 30000 Franken, wie sie sich die Präsidien I und III teilen, komplexe Mietrechtsstreitigkeiten (KGP III), aber auch grösseren Arbeitsrechts- und Strafrechtsfälle (KGP II) . Summarische Verfahren dagegen liessen sich in der Regel rasch erledigen, da selten eine Gerichtsverhandlung und höchstens ein Schriftenwechsel stattfinde. Beispiele hierfür sind Rechtsöffnungen und Konkurseröffnungen, wie sie das Präsidium II bearbeitet, aber auch der Erlass von amtlichen Verboten oder Rechtshilfeverfahren (Präsidium I).

Mit Blick auf die Fälle des Präsidiums II wird Kantonsgerichtspräsident Lorenz Burch vom Präsidium I, das laut Reglement die Fallverteilung vornimmt, konkreter: «Zum Teil sind 200 von gut 300 Neueingängen Rechtsöffnungen und Konkurseröffnungen.» Tatsächlich gingen im KGP II beispielsweise 2014 397 neue Fälle ein, davon 297 Rechtsöffnungen und Konkurseröffnungen. 2018 waren es von 305 Neueingängen 205. «Und auch bei den Straffällen sind einfache Strassenverkehrsdelikte oder abgekürzte Verfahren dabei, bei denen sich der Beschuldigte bereits mit der Staatsanwaltschaft geeinigt hat», fährt Burch fort. Er räumt jedoch ein, dass in den letzten Jahren einige komplexe Wirtschaftsstraffälle dazugekommen seien. «Es ist zu vermuten, dass sich dies auch weiterhin so entwickeln wird.»

Das Kantonsgericht verweist in seiner Mitteilung auch darauf, dass die anderen Präsidien ab Sommer 2017 verschiedene Zivil- und Straffälle vom Präsidium II übernommen hätten. Ab Sommer 2019 seien die vereinfachten Zivilverfahren des KGP II auf alle drei Präsidien aufgeteilt worden. Zudem seien dem KGP II je eine Gerichtsschreiberstelle für Herbst 2016 bis Ende 2017 (60 Prozent) sowie für 2019 (100 Prozent) bewilligt worden. Weiter seien die Stellen von zwei Rechtspraktikanten verlängert worden und eine Praktikantin des Obergerichts sei zur Entlastung eingesprungen. Während des krankheitsbedingten Ausfalls von Roland Infanger ab letztem September hätten die beiden anderen Präsidien und der Vizepräsident weitere Fälle aus dem KGP II übernommen. «Sobald wir Kapazitäten hatten, übernahmen wir auch Fälle vom Präsidium II», sagt Lorenz Burch. «In anderen Jahren war die einzige Möglichkeit, Aushilfsstellen zu schaffen.» Es sei schwer zu sagen, ob man früher hätte reagieren müssen. «Als ich 2008 anfing, übernahm ich auch über 100 Pendenzen von meinem Vorgänger.» Er verweist auch darauf, dass Infangers Vorgänger Guido Cotter die Pendenzen in seinem letzten vollen Amtsjahr 2012 auf noch 46 Fälle gebracht habe. «Dies, obwohl die Verteilung schon damals gleich funktionierte, wie heute. Cotter bot uns damals gar an, zu unserer Entlastung Fälle des KGP I und des KGP III zu übernehmen.»

Bacher: «Exorbitante» Fallzahl lässt sich nicht wegerklären

Diesen Punkt interpretiert Mike Bacher, selber Jurist, etwas anders: «Schon im Amtsbericht 2012/13 war von den hohen Pendenzen am Kantonsgericht die Rede, und Roland Infanger hat bei seinem Amtsantritt die höchste Pendenzenzahl der drei Präsidien übernommen. Das war wohl kaum dem Unvermögen seines Vorgängers geschuldet, sondern deutet auf eine ungleiche Fallverteilung bei hoher Geschäftslast hin.» Bacher sieht in der Statistik seine Vermutung bestätigt, dass für die vielen Pendenzen am Präsidium II in erster Linie strukturelle und nicht personelle Probleme verantwortlich seien. «In den ersten zwei Jahren ist die Einarbeitungszeit von Herrn Infanger ersichtlich, da hat er sicher Pendenzen aufgebaut.» Und es stimme, dass nicht alle Fälle gleich aufwendig seien. Aber die «exorbitante» Zahl der dem Präsidium II zugeteilten Fälle lasse sich nicht rein dadurch erklären, dass diese weniger arbeitsintensiv seien. «Auch das Präsidium I hat einige Bereiche mit einfacheren Fällen in seiner Zuständigkeit. Das KGP III hat dagegen meines Erachtens klar Fälle mit höherem Bearbeitungsaufwand.» Dazu komme, dass auch jeder kleine Fall einen gewissen Grundaufwand verursache. «Um wirklich objektiv beurteilen zu können, wie gross die Belastung der Präsidien ist, bräuchte es eine externe Fachperson.» Die Aufsicht durch den Kantonsrat stosse dagegen offensichtlich an ihre Grenzen, was er auch in einem geplanten Postulat angehen wolle.

Roland Infanger begrüsst die Herausgabe der Statistik. «Sie zeichnet ein völlig anderes Bild, als in den letzten Wochen von meiner Arbeit verbreitet wurde. Der Vorwurf, dass mein Präsidium quantitativ weniger geleistet hat als die anderen, ist aufgrund dieser Zahlen unhaltbar.» Die Argumente des unterschiedlichen Arbeitsaufwands verschiedener Fälle hält er für müssig. «Es gibt in jedem Präsidium kleinere und grössere Fälle.» Er finde es fragwürdig, dass sich die Parteien bei ihrer Entscheidung gegen ihn nur auf den Rechenschaftsbericht stützten. «Wenn man mit Vorwürfen kommt, wie sie gegen mich geäussert wurden, muss man bereit sein, die Belastung der Präsidien und die dahinterstehenden Strukturen vertieft anzuschauen. Man hat nicht ernsthaft in Betracht gezogen, dass die Pendenzenlast im Präsidium II nicht personell, sondern strukturell bedingt sein könnte.»

Unterstützerkomitee denkt an Stimmrechtsbeschwerde

Kantonsrat Ivo Herzog (SVP/Alpnach), Sprecher der Parteien in der Angelegenheit, hält dagegen: Bei den Fallzahlen vergleiche man Äpfel mit Birnen. «Selbstverständlich muss man das Gericht als Gesamtes anschauen. Daher wurden dem Präsidium II auch trotz offiziellem Stellenstopp mehrmals Aushilfsstellen bewilligt, so dass Roland Infanger fast doppelt so viel Personal hatte wie die anderen Präsidien. Aber man kommt anscheinend nicht vom Fleck.» Es sei augenfällig, dass über die letzten Jahre stets das Präsidium II im Fokus gestanden habe, so Herzog. «Ich habe inzwischen einige Zuschriften erhalten von Personen, die nach sonst schon langwierigen Entscheidungen noch monatelang auf die Urteilsbegründung des Präsidiums II warten mussten. Das geht einfach nicht. Es kann auch nicht sein, dass hier jahrelang Zusatzkosten generiert werden.» Und: Es gehe nicht um Parteipolitik, «anders, als dies Herr Infanger zum Teil suggeriert hat. Sämtliche Parteien haben sich gegen ihn ausgesprochen. Es geht um die Sache.»

Trotz der nun veröffentlichten Statistik gar nicht zufrieden ist Adrian Hossli, Sprecher des «Komitees für faire Richterwahl», das Roland Infanger unterstützt. «Es ist skandalös, dass diese Statistik erst jetzt herauskommt. Man kann nicht jemanden so an den Pranger stellen und dann das Beweismaterial bis sechs Tage vor der Wahl zurückhalten. Wir ziehen eine Stimmrechtsbeschwerde in Betracht.»

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