Fredy Heller*
Fredy Heller*
Fredy Heller*
Ich leitete das Theater im Vogelsang die ersten Jahre bis 1977. Es war eine aufregende Theaterzeit – die Kleinkunst in der Schweiz begann gerade zu blühen: Das Fauteuil in Basel, das Kleintheater in Luzern, das Théâtre de Poche in Biel, das Stanser Chäslager, der Burgbachkeller in Zug, das Zähringer in Bern – und das Kellertheater im Vogelsang waren die ersten, die ein regelmässiges Kleinkunstprogramm offerierten.
Leider haben es das damalige Leitungsteam und ich versäumt, die Saison-Spielpläne, Fotos und anderes Beweis- und Anschauungsmaterial der ersten Saisons aufzubewahren. Sind wir wohl von einer kleintheatralischen Eintagsfliege ausgegangen, nicht ahnend, dass das Theater im Vogelsang heute eine 50 Jahre alte, urnerische Kulturinstitution und gleichzeitig eines der ältesten Kleintheater der Schweiz ist.
Top-Kabarettisten und Senkrecht-Starter im Vogelsang
Erinnerungen auf Papier sind das eine, etwas anderes ist der Speicher an Reminiszenzen im Kopf und im Herzen. Die ersten, knapp zehn Jahre sind geprägt von Episoden und Ereignissen mit einer grossen Bandbreite, natürlich sind es in erster Linie unvergessliche Auftritte und Veranstaltungen. Die Top-Kabarettisten aus der Schweiz und Deutschland waren alle zu Gast: der Senkrechtstarter Joachim Rittmeyer, der lyrische Wuschelkopf Christof Stählin, der unverwüstliche Franz Hohler und der brillante Hanns Dieter Hüsch; weiter die Mundart-Virtuosen Berner Troubadours mit Mani Matter & Co., die quirlige Sack’n Roll Band Pfuri, Gorps und Kniri, die fetzigen Boogie-Woogie-Pianisten Che & Ray, das swingende Zigeuner-Ensemble Häns’che Weiss, die Abräumer Peter, Sue und Marc, der feinsinnige Kaspar Fischer, das Puppentheater Bleisch, ein Theaterstück des revolutionären Autors Franz Xaver Kroetz, der Dichter-Pfarrer Kurt Marti, Ausstellungen mit dem Urner Künstler Franz Fedier und den legendären «Tell-Spielereien» mit Karikaturen von unter anderem Peter Hürzeler, Fredy Sigg, René Fehr, erste Filmabende von und mit Kurt Gloor und dem Urner Fredi M. Murer. Und, und, und. Nicht zu vergessen natürlich die grandiosen, einmaligen Programme des kabarettistischen Lokalmatadors Chyybääderli unter der satirischen Federführung von Kurti Gisler und einem brillanten Eigegwäggs-Ensemble.
Ich krame aus meinem Erinnerungsschatz vier kleine Erlebnisse hervor, ganz unterschiedlicher Natur. Und alle haben mit den eigentlichen Auftritten auf der Bühne wenig zu tun, sie sind quasi Backstage-Geflüster!
Mummenschanz bedanken sich vom Broadway für die Starthilfe
Die Mimengruppe Mummenschanz war zu Gast, wahrscheinlich im 1973. Andres Bossard, Bernie Schürch und Floriana Frassetto waren da noch ein Geheimtipp. Es war am Nachmittag des abendlichen Auftritts. Wir sassen zu viert vor dem Theater. Die Drei zupften ihre berühmten Masken für den abendlichen Auftritt zurecht. Uns alle trieb die bange Frage um, wie viele Gäste am Abend wohl in die Vorstellung kommen würden. Ich weiss nicht mehr, ob das Theater voll war ... Aber was für eine Frage, angesichts ihres nachmaligen Welterfolgs. Heute unvorstellbar.
Mummenschanz zog weiter. Durch grössere Theatersäle in der Schweiz und Europa und schliesslich nach New York an den Broadway. Von da kam eine Postkarte ans Theater im Vogelsang adressiert, auf der stand, dass sie sich für unsere Starthilfe bedankten. Eine einzigartige Belohnung.
Emil-Auftritt war innerhalb von zwei Stunden ausverkauft
Es muss so 1972/73 gewesen sein. Kabarettist Emil startete mit seinem ersten Programm «Geschichten, die das Leben schrieb» gerade durch. Die ganze Schweiz wollte ihn auf der Bühne erleben. Auch das «Vogelsang»-Publikum. Von mir aus musste ein Emil-Auftritt nicht unbedingt sein. Eine Dame aus Altdorf war da entschieden anderer Meinung. Sie rief mich an und bat inständig um ein Emil-Gastspiel.
Emil und ich fanden ein Datum in seinem übervollen Auftrittskalender, allerdings ein Abend unter der Woche und nicht an einem Wochenende. Ich rief die Dame an und teilte ihr das freudige Ereignis mit. Sie tat das Ihrige und griff zum Telefonhörer. Das Wunder: Innerhalb von zwei Stunden war das Gastspiel restlos ausverkauft. Ein Vorzeigebeispiel für effektive Mundpropaganda.
Für Peter Wyssbrod gab es keinen «Bschiss»
Der geniale Theatermann Peter Wyssbrod war einige Male mit seinen fulminanten Soloprogrammen zu Gast. In seinem Stück «Abfall/Ordures» aus dem Jahr 1974 war auf der Bühne ein riesiger «Abfallberg» aus zerknitterten Zeitungen zu sehen. Im Vorfeld produzierte ich mit Helfern dieses Bühnenrequisit, es dauerte mehr als eine geraume Zeit.
Als Peter dann zur Bühneneinrichtung auftauchte, war er mit unserer Vorarbeit und der Menge an zerknülltem Zeitungspapier gar nicht zufrieden. Der Berg musste riesig sein. Um zusätzliche Handarbeit zu umgehen, machte ich den Vorschlag, den Haufen mit Schachteln zu unterfüttern. «Das Publikum merkt ja nicht, dass der Abfallhaufen nur oberflächlich aus Zeitungsmüll besteht», argumentierte ich. Weit gefehlt: Peter bestand auf Authentizität: Es gebe auf seiner Bühne keinen «Bschiss», und so äufneten wir den Abfallberg wie verlangt.
Der Profi mit den glänzenden Schuhen
Endlich gelang es uns: An zwei Abenden gastierte der berühmte österreichische Tauben-vergiften-Kabarettist Georg Kreisler im kleinen Kellertheater im Vogelsang. Ich war mehr als aufgeregt. Ob ihm so ein Off-off-Gastspiel gefällt? Und ob er zufrieden ist mit den Bühnenverhältnissen – einen Flügel mussten wir mieten – und der Künstlergarderobe, die eigentlich keine war? Ich machte mir unnötige Sorgen. Kreisler absolvierte sein Altdorfer Gastspiel so professionell, wie wenn er im Fauteuil in Basel oder im Hechtplatztheater in Zürich auftreten würde. Dass dem so war, konstatierte ich an einem Detail, das mich überraschte. Kreisler trat wie immer in schwarzen Lackschuhen auf. Und auch vor dem Altdorfer Auftritt polierte er sorgfältig mit einem Lappen, den er dabei hatte, seine Schuhe – die man ja sowieso nur von der ersten Reihe aus sah. In meiner Erinnerung eine pingelige und minutenlange Prozedur. Ein Profi vom Scheitel bis zur Schuhsohle.
Vom Treffen im Kleinen zum pompösen Riesenanlass
Die Entwicklung der Kleintheater und -bühnen in der Schweiz ist fulminant. Die ersten Zusammenkünfte der Vereinigung Künstler – Theater – Veranstalter (KTV) fanden ab 1975 im Zähringer Refugium in Bern in einem sehr kleinen Kreis statt. Ich war Mitglied des ersten Vorstands. Mit mir am Tisch sassen Hugo Ramseier, Emil, Gunda Dimitri und noch zwei andere. Die Versammlung vereinigte ein paar Veranstalter und eine überschaubare Zahl Künstler. Man tauschte sich ungezwungen aus und vereinbarte gegenseitig Auftritte. Alles an einem Tag, unkompliziert und persönlich. Erst später kamen der steigenden Nachfrage wegen die Casting-Auftritte dazu. Viele Jahre später wurde aus dem lockeren Zusammenschluss ein paar Kleinkunstverrückter die ktv-Börse, wie sie heute alljährlich an vier Tagen im Kultur- und Kongresszentrum Thun stattfindet. Ein pompöser Riesenanlass mit prominenten Reden, üppigen Preisverleihungen und dem ganzen Brimborium. Aber es ist der Beweis: Die Kleinkunst lebt.
*Zum Autor dieses Artikels: von 1968-1977 Lehrer am Lehrerseminar Uri für Zeichnen, Werken, Schrift und Medien; ab 1978 Kulturarbeit in der freien Theaterszene als Theaterleiter, Produktionsleiter, Vorständemitglied, Administrator, Autor und Lektor. Wohnt in Basel.