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Von Rumänien nach Altdorf: In Uri kann Hebamme Angelica-Maria Birjovanu auch mal abschalten

Die schwere Arbeits- und Lebensbelastung zwingt eine Hebamme aus Rumänien dazu, das Land zu verlassen.
Angelica-Maria Birjovanu ist als Hebamme im Kantonsspital in Altdorf tätig. (Bild: PD)

Claudia Naujoks

Angelica-Maria Birjovanu floh vor der frustrierenden Realität in ihrem Heimatland, selbst mit Vollzeitjob als Hebamme, Nebenjobs und Ferienjobs mehr schlecht als recht über die Runden zu kommen. Dass sie ausgerechnet in der Schweiz im Kanton Uri landet, war purer Zufall.

Irgendwann ist der Leidensdruck so gross, dass sie sich an den Computer setzt und im Internet in Deutschland und Österreich nach Stellen für Hebammen sucht. Die Schweiz hat sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht auf dem Schirm – «das war Science-Fiction». Sie denkt, dass die Voraussetzung für eine Bewerbung dahin ist, dass man als aus dem Ostblock Stammende mindestens ein Jahr eben in einem der beiden Länder gearbeitet haben muss.

Nichts würde sie lieber machen

Das war vor zirka neun Jahren, als Birjovanu versuchte, mit dem Vollzeitjob als Hebamme, Nebenjobs am Abend und Wochenende sowie Ferienjobs in Deutschland die Kosten für ihre studierenden Töchter und den erkrankten Mann zu decken. Dabei ist die damals 48-Jährige zu diesem Zeitpunkt sehr gut ausgebildet: Nach einer normalen Schullaufbahn, dem Abitur und der anschliessenden Arbeit als Medizinische Praxisassistentin in ihrer kleinen Heimatstadt im Westen des Landes erlernt sie an der Höheren Fachschule den Beruf der Pflegefachfrau. Schon früh ist ihr klar, dass sie als Hebamme arbeiten möchte. «Diesen Beruf würde ich für mich schon als eine Berufung bezeichnen! Es gibt nichts, was ich lieber machen wollte», überlegt sie lächelnd. Allerdings erlaubt das Regime in Rumänien den Begriff damals nicht, sie nannten den Beruf Geburtshilfliche Pflegefachfrau. Sie kann ihn nur mit Hilfe von Kursen und Weiterbildungen erlangen.

Obwohl sie im Laufe der Jahre schon eine beträchtliche Zeit Berufserfahrung aufweisen kann, nimmt die damals 30-Jährige aus eigener Kraft sowie eigenen finanziellen Mitteln auch noch das vierjährige Studium an der Fachhochschule für Hebammen, die einige Jahre später eingerichtet wurde, in Angriff. «Ich wollte nicht, dass eine jüngere Hebamme im Gebärsaal dann das Sagen bekommt, weil sie diesen Abschluss hat, obwohl sie nicht die Erfahrung und das Hintergrundwissen hätte vorweisen können», erklärt Angelica-Maria Birjovanu.

Ihre beiden Töchter sind zu diesem Zeitpunkt zwar schon relativ gross, trotzdem geniesst sie den Luxus einer zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung stehenden Betreuerin: ihre Mutter, die sich für ihr einziges Kind und deren Mann, der selber als Schlosser voll berufstätig ist, extra hat pensionieren lassen. Denn auch während der Ausbildung muss die Hebamme Zwölf-Stunden- Schichten arbeiten. Sie schliesst die Fachhochschule erfolgreich ab.

Die Lage spitzt sich zu

Die finanzielle Situation der Familie verschärft sich jedoch, als die Politik in Rumänien die eigenen finanziellen Nöte mit empfindlichen Lohnkürzungen zu mildern versucht. Nun erschweren mehrere zusammenfallende Umstände das Leben der Birjovanus: Dass beide Töchter inzwischen an der Uni studieren, erfüllt die Eltern mit Stolz und gerne unterstützen sie sie darin. Das ist schon unter normalen Umständen eine ausserordentliche Belastung, aber die Regierung streicht plötzlich alle zusätzlichen Zuwendungen, wie die Risikojobzulage sowie Feiertagszulagen, die dieser verantwortungsvolle Beruf enthalten hat. Mit einem Nebenjob versucht die zweifache Mutter, den Verlust auszugleichen, als auch noch ihr Mann erkrankt und zunächst gar nicht, später nur noch 50 Prozent arbeiten darf. Im Gesundheitswesen in Rumänien sind Bestechungsgelder an der Tagesordnung. Und bestimmte Untersuchungen, die nur durch private Praxen durchgeführt werden können, müssen auch aus eigener Tasche bezahlt werden. Diese Ausgaben sind so immens, dass Maria-Angelica Birjovanu sogar noch in ihren Ferien arbeitet. Einige Jahre hält sie durch; dann ist irgendwann der Akku leer und sie erkennt:

«Ich kann nicht mehr so weitermachen, ich muss etwas anderes versuchen.»

Mit letzter Kraft sitzt sie in ihrer kargen freien Zeit vor dem Computer und sucht nach Stellen in Deutschland und Österreich. Aber die Suchmaschine listet ihr immer nur Stellen in der Schweiz auf. Nach einigen Versuchen schiebt sie ihre Bedenken beiseite und schickt ihre Bewerbung schicksalsergeben an eine Schweizer E-Mail-Adresse. «Schlimmeres als eine Absage kann mir ja nicht passieren», überlegt sie. Kurz darauf erhält sie einen Anruf von einer Dame von Swiss Medical Search. Sie vermittelt Fachpersonal an medizinische Einrichtungen in der Schweiz – und plötzlich geht alles ganz schnell. Es ist, als wäre ein Schalter umgelegt. «Ich nenne es Zufall – oder Schicksal», resümiert Angelica-Maria Birjovanu. Gleich drei Einladungen zum Vorstellungsgespräch erhält sie und entscheidet sich für das Kantonsspital Uri in Altdorf.

Der Anfang war streng

«Es war einfacher, mich an sie zu gewöhnen, als sie sich an mich gewöhnt haben», erinnert sich die Rumänin mit einem entwaffnenden Lächeln, die von sich behauptet, eher ein heissblütiges Temperament zu haben, laut und zu viel zu reden und schnell zu explodieren, wie die meisten ihrer Landsleute. Da hat es sie sehr beeindruckt, wie gelassen hier alle sind und ex­trem viel Ruhe und Geduld vorherrscht:

«Die Schweizer sind sensibler und feinfühliger – und sie kennen das Wort ‹Stress› nicht.»

Dass sich diese Ruhe inzwischen auch auf sie übertragen hat, merkt sie vor allem beim Autofahren: «In Rumänien wird mehr gehupt als in Italien, früher habe ich mich mitaufgeregt, heute nicht mehr.» Aber auch der respektvolle Umgang zwischen den Menschen, der sich in ihrem eigenen Land zum Negativen hin entwickelt hatte und verlorengegangen war, fallen ihr sofort positiv auf.

Dankbar ist sie ihren Arbeitskolleginnen, mit denen sie immer noch auch freundschaftlich verbunden ist und die ihr sehr geholfen haben in der doch schwierigen Anfangszeit, als sie– obwohl durch das Schulfach Deutsch schon Kenntnisse vorhanden – noch sprachliche Probleme hatte. Sie besteht darauf, dass in ihrer Gegenwart Mundart gesprochen wird, damit sie es lernt, nichtsdestotrotz muss sie sich konzentrieren, um alles zu verstehen. Ihr entgegen kommt dabei, dass die damaligen Ärzte und Assistenzärzte, aus Deutschland und Österreich stammend, hochdeutsch gesprochen haben. Auch der Personalwechsel in der Position der Leitenden Hebamme sei für sie sehr positiv gewesen, denn die einfühlsame Person verstehe es sehr gut, wie sie ihre Mitarbeiter fördern könne, freut sich die leidenschaftliche Hebamme.

Schnell wird ihr bewusst, dass sie aus noch einem weiteren Grund die richtige Entscheidung mit diesem für sie grossen Schritt, den Arbeitsplatz und das Land zu wechseln, getroffen hat. Denn sie stellt fest, dass hier im Gebärsaal die Hebamme die führende Kraft ist. Ganz anders als in Rumänien, wo es sich in den letzten Jahren dahingehend entwickelt hat, dass der Arzt während der gesamten Zeit der Geburt den Vorgang leitet.

Von Anfang an imponieren ihr hier die Berge und sie fühlt sich sehr schnell wohl in dieser Umgebung, die landschaftlich einen grossen Kontrast zu ihrer Heimat bildet. «Ich fing mit der Zeit an, wieder die Alte zu sein», sagt Birjovanu. Sie kann die sehr belastende Zeit in Rumänien hinter sich lassen und versucht jetzt, auch ein wenig zu leben, abzuschalten in der Natur – seit fünf Jahren auch mit ihrem inzwischen pensionierten Mann zusammen –, denn das hilft ihr, Distanz zu ihrer Arbeit im Gebärsaal zu bekommen. Denn hier gibt sie sich völlig hinein und stellt sich ganz in den Dienst ihrer Klienten. Diesen Beruf könne man nicht distanziert ausüben, sagt Birjovanu. Es sei immer eine Gratwanderung nach dem Motto: «Ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst, das heisst aber nicht, dass ich immer danebenstehen muss», fasst sie zusammen. Wichtig sei ihr dabei, offen zu klären, was die werdende Mutter oder die werdenden Eltern gerade benötigen. Seit achteinhalb Jahren ist Angelica-Maria Birjovanu nun im Kanton Uri, ihre Töchter haben ihre Studiengänge abgeschlossen und arbeiten und leben mit ihren Familien in Deutschland und Österreich. Wenn man sie nach ihren Wünschen fragt, überlegt sie kurz und sagt: «Vielleicht eine Einbürgerung ...»

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