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«Ürner Asichtä»: Das neue Normale

Regula Waldmeier konnte dem Corona-bedingten Lockdown viel Positives abgewinnen.
Regula Waldmeier, Gastkolumnistin bei der Urner Zeitung. (Bild: Philipp Zurfluh)

Regula Waldmeier

Mein liebenswerter, schon etwas älterer Bekannter, geht etwas krumm, was seinem spitzbübischen Humor jedoch nichts abtut. Der Schalk sass ihm wohl im Nacken, als er lächelnd meinte; wir Alten hätten dank Corona wieder zu gehorchen gelernt. Ich habe gerne gehorcht und bin noch heute überzeugt, dass die Experten besser wissen, was zu tun und zu lassen ist, als ich. Jene Experten, die die Wahrheit suchen und nicht von Anfang an behaupten, sie zu kennen. Jene, die anhand von Erfahrungen und Erkenntnissen die wahrscheinlich besten gangbaren Wege vorschlagen.

Ich hatte die langen, immer gleichen Spaziergänge lieb gewonnen. Das monotone Summen der Natur stimmte mich friedlich, ich gewöhnte mich an die geruhsame Langeweile und war froh, dass meine Lieben und ich nicht an Corona erkrankt oder gar gestorben waren. Ich beobachtete, wie Familien zu Teams wurden, Eltern zu Partnern. Zusammen meisterten sie, ohne die Hilfe der Grosseltern, bei geschlossenen Kitas mit einem riesigen Effort Homeoffice und Homeschooling. Die Grosskinder waren glücklich, weil sie immer mit den Eltern zusammen sein konnten. Meine Isolation führte nicht zur Vereinsamung, im Gegenteil, mein starkes Netz wurde noch stärker, Nachbarn wurden wichtig, halb vergessene Beziehungen werden nun wieder gepflegt und wir haben Bücher getauscht.

Schwierig war, die Lieben auf Distanz halten zu müssen. Mit den Lockerungen hiess es: auftauchen und wieder selber Verantwortung übernehmen. Das kommt mir schwierig vor. Hatte ich acht Wochen lang meine Einkaufsliste meiner Tochter gemailt, stand ich nun überfordert im Verkaufsladen: Tomaten, hatte ich notiert, zirka 20 Sorten wurden angepriesen, auch von den anderen Waren ist die Auswahl für mich zu gross. Die Leute kommen mir nahe, soll ich die Maske aufsetzen? Maskenfaul seien die Schweizer, las ich. Das neue Unwort des Jahres? Hatten die Menschen während des Lockdowns in der Schweiz eingekauft, floriert der Einkaufstourismus nach Deutschland nun wieder. Diese Rechnung kann nicht aufgehen, das ist Blödsinn.

Heute, ich schreibe die Kolumne am 28. Juni, gab es weltweit noch nie so viele Ansteckungen mit dem Coronavirus. In der Schweiz ist das Verhalten der Bevölkerung immer noch am wichtigsten, Abstand- und Hygienemassnahmen sind angesagt. Das Virus ist unberechenbar, die Schäden, die es an den Organen anrichtet, sind es auch. Vielleicht ist es das Unsichtbare, Surreale, das diese Bedrohung vergessen lassen will. Wir kehren wieder zur Normalität zurück, zur neuen Normalität, wie sie auch genannt wird, einem Leben nach, oder mit dem Virus.

Wie sieht es denn nun aus, das neue Normale, fragt sich Mathias Horx, der Zukunftsforscher – er erlangte mit seinem Artikel über die Regnose grosse Bekanntheit – in seinem Buch «Die Zukunft nach Corona». Wir könnten zum Beispiel dankbar sein, dass wir die Krise überlebt haben, dass nicht alles zusammengebrochen ist, wenn auch die Schwierigkeiten und das Leiden gross waren. Dass uns die Krise Grenzen aufgezeigt hat, dass das gleichzeitig auch heilsam ist. Dank Corona wurden Missstände aufgedeckt – etwa in den Gross-Metzgereien, bei der Unterbringung und Entlöhnung von Gastarbeitenden, bei den illegalen asiatischen Näherinnen in Italien, in Flüchtlingscamps. Ein weiterer wichtiger Begriff, den sich Mathias Horx vorstellen könnte, ist Verantwortung. Jeder kann für sich klären, wofür er verantwortlich ist, anstatt dies an die Aussenwelt zu delegieren. Und im neuen Normal würden wir nicht glauben, dass es nur ein einziges Zukunftsmodell gäbe, nämlich das des immer schnelleren Wachstums. Horx ist überzeugt, dass der Schlüssel zur Zukunft davon abhängt, wie wir uns, als Individuen, Gesellschaft, Unternehmen, Zivilisation, selbst konstruieren.

Das neue Normale muss nicht zwingend wie das alte Normale sein. Die Krise als Chance, ein abgegriffener Begriff, da sind wir uns einig. Aber gemeint ist die Krise als Chance im Sinne von Selbst-Veränderung, die auch zur Welt-Veränderung führt.

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