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Uri

«Sich nur Wissen anzueignen, genügt nicht»: So hat sich der Weg zur Urner Matura verändert

Nach 24 Jahren tritt Ruth Wipfli Steinegger aus der Maturitätsprüfungskommission zurück. Im Interview zieht die 63-Jährige Bilanz und erzählt, wie einst bauchfreie Kleider von Schülerinnen zum Problem wurden.
Ruth Wipfli Steinegger verlässt die Maturitätsprüfungskommission – bleibt aber in anderen Bildungsgremien aktiv. (Bild: Florian Arnold (Altdorf, 15. Juli 2020))

Markus Zwyssig

24 Jahre sind eine lange Zeit. Hätten Sie gedacht, dass Sie so lange in der Maturitätsprüfungskommission bleiben würden?Ruth Wipfli Steinegger: Nein, natürlich nicht. Mein Vater war 20 Jahre lang in der Maturitätsprüfungskommission und hat mir gesagt: Das schaffst du nicht, so lange wie ich dabei zu sein. Nun ist meine Amtszeit sogar länger als seine geworden. Ich habe es einmal ausgerechnet: Insgesamt war ich 14,4 Arbeitswochen oder 3,8 Monate an Maturaprüfungen dabei. Es war nicht ein Müssen. Ich habe das sehr gerne gemacht und war motiviert für das Amt. Liegt Ihnen die Bildung demnach sehr am Herzen? Ja, sonst würde ich mich nicht schon so lange dafür engagieren. Ich habe einige weitere Mandate im Bildungsbereich (siehe Box). Ich denke, das ist ein gutes Paket aus den Bereichen Universität, Fachhochschulen und der gymnasialen Stufe. Die Themen wiederholen sich. Das ermöglicht es mir, Zusammenhänge zu sehen und die in meine Arbeit in den verschiedenen Gremien einzubringen.Welche Erinnerungen haben Sie an die eigene Schulzeit?An meine Zeit im Gymnasium habe ich gute Erinnerungen. Wir mussten natürlich auch damals viel lernen und es gab einen gewissen Druck. Ich ging aber immer sehr gerne in die Schule und empfand das Lernen als eine Bereicherung für mein Leben. Das Umfeld, Kollegschaften pflegen, das war natürlich neben der Schule ebenfalls wichtig. Was war ihr speziellstes Erlebnis in all den Jahren in der Maturitätsprüfungskommission?Wir mussten uns mit ganz unterschiedlichen Problemen auseinandersetzen. Einmal war es das häufige Fernbleiben der Schüler vom Unterricht. Ein anderes Mal haben wir über Kleiderordnungen gesprochen. Damals erschienen die jungen Frauen mit bauchfreien Kleidern. Und wir fragten uns, ob das für Maturaprüfungen passend ist. Die Maturastreiche kamen ins Gerede, weil es auch um Sachbeschädigungen ging oder darum, dass der Schulbetrieb total lahmgelegt wurde. In die Zeitung schafften wir es einmal, weil die Durchfallquote an der Matura im Kanton Uri als zu hoch taxiert wurde. Aber: So wie die Probleme auftauchten, so entschärften sie sich auch wieder und verschwanden schliesslich. Grundsätzlich sind die Schüler heute angepasst. Sie sind unauffälliger geworden.Wie hat sich der Weg zur Matura gewandelt? Die Maturareformen haben die Ausbildung recht stark geprägt. Früher gab es verschiedene Maturatypen. Die Schüler mussten sich entscheiden, ob sie eine sprachliche, mathematische oder wirtschaftliche Richtung einschlagen wollen. Heute haben die Schüler Grundlagen- und Wahlpflichtfächer sowie ein Schwerpunkt- und ein Ergänzungsfach. Zudem gibt es die Möglichkeit zur bilingualen Matura, das heisst, einige Fächer werden in englischer Sprache unterrichtet. Ziel der Maturareife ist es, dass die Schüler nach sechs Jahren mit einer breiten Allgemeinbildung gut auf die Hochschule vorbereitet sind.Wie kann dies erreicht werden?Es geht einerseits darum, dass sie die zum Studieren nötigen Fähigkeiten erlernen, aber auch darum, eine vertiefte Gesellschaftsreife zu erreichen. Eine neue Herausforderung stellt die Informatik dar. Wir müssen die Jungen für die Aufgaben in der Gesellschaft vorbereiten und mit den neuen Technologien bekannt machen. Es geht darum, aufzuzeigen, wie sie sich den gesellschaftlichen Herausforderungen stellen können. Gefragt ist vernetztes Denken und breit gefächertes Wissen. Sich nur Wissen anzueignen, bringt die Schüler nicht dorthin, wo es die gesellschaftlichen Anforderungen verlangen. Demnach darf die Matura auch nicht nur Wissen abfragen.Am Ende des Gymnasiums sollen die Schüler in der Lage sein, mit Hilfe von dem, was sie gelernt haben, zu analysieren und Lösungen für Probleme zu finden. Auch das Studium hat sich verändert. An Universitäten und technischen Hochschulen werden insbesondere digitale Fähigkeiten verlangt, der IT-Bereich wird immer wichtiger. Ein grösseres Augenmerk sollte auch die politische Bildung einnehmen. Den Vorstoss der Altdorfer CVP-Landrätin Céline Huber finde ich wichtig und unterstützenswert. Es geht auch darum, bereit zu sein, öffentliche Aufgaben zu übernehmen. Ist es schwieriger geworden, eine Matura zu machen?Es ist nicht schwieriger geworden, eine Matura zu machen, im Vergleich zu früher. Es ist aber einiges anders geworden. Ein wichtiger Punkt ist dabei insbesondere die Maturarbeit. Die Mittelschüler lernen dadurch, sich über längere Zeit mit einem Thema zu befassen und es wissenschaftlich zu erarbeiten. Gefragt sind auch rhetorische Fähigkeiten der Schüler. Sie präsentieren die Arbeit schliesslich Freunden, Verwandten und weiteren Interessierten.Hat die klassische Matura an Bedeutung verloren?Die Konkurrenz durch die Fachmatura ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Zwischen der gymnasialen Matura und der Berufsmatura gibt es Unterschiede. Der Zugang zu den Universitäten wurde aufgeweicht. Die sogenannte Passerelle eröffnet den Weg an die universitären Hochschulen der Schweiz für Berufs- und Fachmaturanden. Der Königsweg über die gymnasiale Matura ist nicht mehr der einzige Zugang zu den Universitäten. Ich vertrete die Meinung, die Maturitätsprüfungskommission muss immer wieder für den Erhalt der Werte der Matura kämpfen. Der Ausbildungsgang ist nach wie vor einzigartig. Er eröffnet einen praktisch prüfungsfreien Zugang zu den Hochschulen – abgesehen vom Numerus Clausus bei der Medizin. Der Kanton Uri hat eine der tiefsten Maturitätsquoten der Schweiz. Diese liegt bei 10 bis 13 Prozent. In den vergangenen beiden Jahren sind aber die Eintritte ans Gymnasium wieder angestiegen. Sie liegen inzwischen bei 16 bis 20 Prozent – also in einem gewünschten Rahmen.Wenn Sie bei einer mündlichen Prüfung dabei waren, hat das die Schüler nicht immer gefreut. Es hiess, das Resultat könne knapp ausfallen. Stimmt das?Wenn es eng wird, ist man eher geneigt, bei der einen oder anderen Prüfung vorbeizuschauen. Ich habe aber auch Besuche gemacht, weil ich sehen wollte, wie es in einem Fach ganz allgemein läuft. Aber es ist schon so: Heute nimmt man viel schneller einen Anwalt zu Hilfe, wenn jemand durchgefallen ist. In den vergangenen Jahren konnte im Kanton Uri aber nie auf einen Gerichtsentscheid ein erfolgreicher Rekurs bewirkt werden. Das ist sicher auch ein Verdienst der Lehrpersonen an der Kantonalen Mittelschule Uri.Das vergangene Schuljahr war wegen der Coronapandemie ein Besonderes. War das überhaupt eine vollwertige Matura?Ich bin sehr froh darüber, dass wir die schriftlichen Prüfungen durchgeführt haben. Es hat einen längeren Entscheidungsprozess gebraucht, bis man wusste, wie es laufen soll. Die Urner Bildungsdirektion stand in engem Kontakt mit den anderen Zentralschweizer Kantonen. Eine Matura ist nicht eine Prüfung, bei der man den Kurzspeicher einsetzen kann. Geprüft wird vielmehr der Stoff aus zwei Schuljahren. Schwache Schüler erhalten eine Chance, sich noch zu verbessern. Ein Prüfungserfolg schafft bei den Schülern Selbstvertrauen. Wir haben uns bei unserem Entscheid auch nicht von grossen Kantonen überzeugen lassen. Das zeugt doch von einer gewissen Eigenständigkeit.

Wenn man die schriftlichen Prüfungen für die Matura nicht gemacht hätte, wäre das eine Abwertung gewesen.

Nun aber denke ich, dass es sehr wohl eine vollwertige Matura war.
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