notifications
Uri

Der «Nahe Osten» lässt Redaktor Bruno Arnold nicht los

Ihn zieht es immer wieder an einen idyllischen Ort – nicht nur ferienhalber, sondern auch beruflich: Bruno Arnold über seinen Lieblingsplatz, den «Nahen Osten» von Uri.

Naher Osten: Sicher denken Sie jetzt spontan an Badeferien in Ägypten, an Gesänge in Wüstenschlössern in Jordanien, an einen Massenandrang vor der Geburtskirche in Betlehem oder an den spektakulären Blick vom Burj Khalifa aus auf Dubai. Mein «Naher Osten» sieht anders aus. Ich denke an ein erfrischendes Fussbad im Fätschbach, erinnere mich an unvergessliche «Echo-vom-Tödi»-Klänge an der «Vreenächilbi» im Hotel Wilhelm Tell, an gesprächige Leute vor der Kirche St.Erhard nach dem Besuch des sonntäglichen Gottesdiensts und ich schwärme von der imposanten Aussicht aus über 2000 Metern auf die grösste Kuhalp der Schweiz. Richtig erkannt: Mein «Naher Osten» ist der Urnerboden.

Der Urner Historiker Karl Franz Lusser (1790–1859) hat den Urnerboden einst als «Arcadien der Schächen­thaler» bezeichnet. Er dürfte «Arcadien» als Synonym für ein irdisches Paradies verwendet haben. Zu Recht! Der Urnerboden ist nämlich nicht einfach die grösste und schönste Schweizer Kuhalp, sondern auch ein reizendes Feriendomizil für Alphüttenliebhaber. Man kommt dort ins Gespräch mit Städtern, die sich nach Alpenluft sehnen, mit Wanderern, (motorisierten und unmotorisierten) Bikern oder auch mit Bergsteigern, die den Urnerboden als Ziel für einen sommerlichen Tagesausflug gewählt haben. Doch das vom glasklaren Fätschbach durchschlängelte Hochtal an der Grenze zu Glarus hat auch im Winter sehr viele Attraktionen zu bieten. Ich denke etwa an die Langlaufloipe, an den Trail für Schlittenhunde, an Felswände für Eiskletterer oder an die 7 Kilometer lange Schlittelbahn vom Fisetengrat hinunter auf den rund 700 Meter tiefer gelegenen «Boodä». Von Winterfreuden auf dem Urnerboden konnte Lusser zu Lebzeiten nur träumen. Damals durfte auf dem Urnerboden noch nicht überwintert werden. Erst 1877 hob der Bundesrat einen Beschluss der Urner Regierung auf: Dieser hatte nämlich wegen der Lawinengefahr ein winterliches Wohnverbot ausgesprochen.

Als «Chnächtli» bei Älpler «Getschwiliger Guscht»

In den «Nahen Osten» und ins Klausengebiet zieht es mich seit Jahrzehnten. Während meiner Primarschulzeit habe ich drei Alpsommer als «Chnächtli» bei Gustav Herger («Getschwiliger Guscht») in dessen Alphütten im Untersten Wang und auf Bödmer am Klausenpass verbracht. Beeindruckt hat mich vor allem die markante Erscheinung des Flüeler Älplers mit dem langen weissen Bart. Dass er bei Diskussionen unter Erwachsenen auch mal seine riesige Faust auf den Tisch hämmerte und seine Meinung mit seiner unüberhörbaren tiefen Stimme zum Ausdruck brachte, machte mir damals gehörig Eindruck. Erst in späteren Jahren wurde mir bewusst, dass «Getschwiligers» Meinungsäusserungen wohl dann und wann auch Ausdruck einer an Sturheit grenzenden Eigenwilligkeit gewesen sein dürften.

Genossen habe ich in jenen 1960er-Sommern eines ganz besonders: Das währschafte und feine «Nyytlä­ryys» aus der Kupferpfanne, das es fast täglich gab und das trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – noch heute zu meinen Lieblingsspeisen zählt. Ich erinnere mich auch an das Brot, das damals mit der Suppe auf den Tisch kam. Es stammte aus der Bäckerei des legendären «Beck Brosi», des Bruders meiner Grossmutter väterlicherseits. Nie habe ich besseres Brot gegessen als dieses «Ürnerbodä-Brot». Es war – im Gegensatz zum heutigen – auch nach drei und mehr Tagen noch nicht hart. Im Gegenteil: «Äs wird vu Tag zu Tag besser», meinte «dr Getschwiliger». Und recht hatte er – wie übrigens (fast) immer. Richtig lag er auch mit seiner Einschätzung, dass aus mir nie «ä rächtä Püür» werde.

Die Liebe zum Urnerboden lebt in den Söhnen weiter

Aus dem jungen «Getschwiliger-Chnächtli» wurde effektiv kein «Püür» und auch kein «Ürnerboodä-Älpler» ... Und trotzdem verbringe ich seit den 1990er-Jahren die Sommerferien (fast) ausnahmslos auf dem Urnerboden. Mein Lieblingsplatz – und mittlerweile auch derjenige meiner Söhne – ist die Alphütte meines Schwagers Brosi Arnold («ds Stäbärgler-Brosä-Käris-Brosi») im Rütteliegg, wo auch meine Frau mehrere Sommer lang als Älplerin tätig war. Noch heute schwärmen unsere inzwischen erwachsenen Söhne von den gemeinsamen natel- und fernsehlosen Familienferien auf dem Urnerboden: vom Schlafen im Massenlager «im Chämmerli iberobä», vom Klettern auf dem nahe gelegenen «Stei», vom Aufscheuchen eines Dachses, vom Herstellen von Fackeln aus selber «geerntetem» Harz, vom Knistern des Holzes im «Öfäloch» und von der sich daraus ergebenden wohligen Kachelofen-Wärme beim Jassen im «Stubli». Sie erinnern sich an ihre ersten Velo- und Rollerblades-Fahrversuche «vorem Gaadä» oder auf der abends nur noch wenig befahrenen Klausen-Passstrasse (Abschnitt Rütteliegg–«Rossstall»). Unvergesslich war die Fahrt in einem American La France Jahrgang 1917 vor dem Klausenrennen-Memorial 1998. Sie lachen noch heute über die vom «Tädi» erfundenen «Güät-Nacht-Gschichtli» mit den Hauptdarstellern Seppli und Tonäli, die im spannendsten Moment endeten, weil der Erzähler eingeschlafen war oder Zeit schinden wollte, um in aller Ruhe die Fortsetzung ausstudieren zu können. Sie erzählen von den Abstechern ins Freiluftbad in Schwanden. Dass diese mangels fehlender Dusche in der Alphütte auch einer umfassenden Generalreinigung dienten, sei nur am Rande erwähnt ... Und ich selber erinnere mich an «Hindersimätsch» mit Hansruedi im damaligen «Alpenrösli» oder daran, dass ein Einkauf im «Lädäli» vom «Beck Josy» selten ohne Bitte um einen Kurzeinsatz als Ölkannen- oder Mehlträger über die Bühne ging.

Der unerfüllte Wunsch: Winterferien «ufem Boodä äänä»

Der «Nahe Osten» war auch aus beruflichen Gründen immer wieder ein Thema. In den 1980er-Jahren überlegte ich mir ernsthaft, mich als Lehrer für die Gesamtschule auf dem Urnerboden zu bewerben. Doch mit dem Entscheid für einen Berufswechsel war diese Idee vom Tisch. Auch der neue Job als Journalist sollte mich jedoch ab 1988 immer wieder in den «Nahen Osten» führen. Zeitdruck hin oder her: Immer, wenn ich Richtung Urnerboden fuhr, fühlte ich mich auf dem Weg in die Ferien – auch wenn es aus beruflichen Gründen geschah, etwa für Reportagen über Alp- und Stäfelfahrten, Viehmarkt, Urnerboden-Schwinget, «Giggäli»-Schiessen (inklusive Jass), Älpler-Wunschkonzert, Klausenrennen-Memorial, Tour de Suisse, Einweihung der Fiseten­grat-Seilbahn oder Eröffnung der Alpkäserei. Natürlich gab es auch weniger schöne Gründe für meine «Boodä»-Fahrten: etwa den Lawinenwinter 1999 oder die Schulschliessung im Sommer 2001. Apropos Ferien: Seit mich der Helikopterpilot im März 1999 auf dem von der Umwelt abgeschnittenen Urnerboden abgesetzt hat, rede ich davon, einmal ein paar Tage (freiwillig) im tief verschneiten Hochtal zu verbringen. Nicht mit Eisklettern, Langlauf oder Skitouren, es darf ruhig gemütlicher sein, etwa beim Schlitteln, beim Spazieren oder bei einem Jass.

Kommentare (0)