Ruth Koch
Da sind sie, die ersten wärmeren Tage mit Tageslicht am frühen Morgen und abends. Beim Waldspaziergang kündigen sich die ersten Frühlingsboten an. Die Buchen halten ihre Blätter zwar noch zurück. Doch der Seidelbast präsentiert bereits seine rosaroten Blüten. Die Blattknospen der Pfaffenhütchen haben die Hülle gesprengt. Beim geringsten Windstoss wehen die Pollen der Haselhecken in gelben Schwaden durch die Luft. Ab und zu hämmert ein Specht. Die Amsel zeigt sich melodiös. Hier sind Landwirte am Aufräumen des Holzwerks, dort wird am Waldrand Gülle ausgebracht mit der entsprechenden Duftnote bis tief in den Wald hinein.
Beim Waldspaziergang erinnere ich mich an die Geschichte der zwei Holzer (es waren wirklich nur Männer), die sich in angeberischen Erzählungen zu übertrumpfen versuchten. So berichtete der eine über einen ganz besonders harten Winter: Alles sei über Monate bei tiefen Minustemperaturen steinbein gefroren geblieben. Bei unerträglicher Kälte hätte er Holz geschlagen. Sogar die Worte, kaum ausgesprochen, seien sofort erstarrt – nichts mehr sei davon zu hören gewesen.
Übertreibungen haben es in sich. Und sie sind derzeit hoch im Kurs. Sie dienen der Unterhaltung. Oder sie halten in der politischen Diskussion als rhetorisches Stilmittel her, um Wählerstimmen zu erhaschen. Da ist von Diktatur in der Schweiz die Rede, vom Gesslerhut und von Manipulation. Das ist starker Tobak und verfehlt die Wirkung nicht. Die Aufmerksamkeit sowohl in den eigenen Reihen wie bei den Gegnern ist garantiert. Aber seien wir ehrlich: Wer von uns weiss schon, wie es ist, in einer Diktatur zu leben?
Eigentlich sollte es in diesen Zeiten nicht um die Aufmerksamkeit, um Effekthascherei gehen. Es sollte darum gehen, wie wir als Gesellschaft die Pandemie mitsamt ihren Auswirkungen meistern. Was zu tun ist, damit das Gesundheitswesen nicht kollabiert und die Risikopatienten geschützt sind. Es sollen jene unterstützt werden, die ohne Selbstverschulden, jedoch zum Wohle der ganzen Gesellschaft wirtschaftliche Einbussen ertragen müssen. Ob die Entscheide der Landesregierung immer verständlich oder richtig waren, kann diskutiert werden. Tatsache ist aber, dass in unserem Land die Infektionszahlen noch immer verhältnismässig hoch sind. Die Gratwanderung zwischen Öffnung und Einschränkung bleibt ein Balanceakt. Polemik ist fehl am Platz.
Wir alle haben mehr als genug von den Einschränkungen. Auch ich würde gerne wieder unbeschwert ein Familienfest feiern oder mich im Restaurant bei einem feinen Essen verwöhnen lassen. Den jungen Menschen mag ich das Partyleben von Herzen wieder gönnen. Es bleibt uns aber nichts anderes übrig, als noch durchzuhalten.
Vergessen Sie den Gesslerhut und die Diktatur. Gefragt sind Gelassenheit sowie Entspannung. Beim Spaziergang durch den Frühlingswald könnten Sie den beiden Holzern begegnen. Vielleicht geben sie weitere unglaubliche Geschichten zum Besten. Oder Sie hören jetzt die in der winterlichen Kälte erstarrten Worte als aufgetautes Palaver.
Ruth Koch-Niederberger, Kommunikationsfachfrau aus Kerns, äussert sich an dieser Stelle abwechselnd mit anderen Autoren zu einem selbst gewählten Thema.