Alexander von Däniken
Er nahm seine Arbeit auf, als die Pandemie langsam Fahrt aufnahm. Seit rund einem Jahr beschäftigt sich Jürgen Ragaller mit der Frage, wie der Kanton Luzern das Ziel erreichen kann, bis 2050 netto Null Treibhausgase auszustossen. Und wie sich die Bevölkerung nicht am besten gegen Tröpfcheninfektionen, sondern gegen Hochwasser oder lange Dürreperioden rüstet.
Ein kurzer Blick zurück in eine Zeit, als nicht Coronaskeptiker, sondern Klimaaktivisten durch die Strassen zogen: Aufgrund des hohen Drucks setzte der Luzerner Regierungsrat am 24. Juni 2019 eine Klima-Sondersession an. Das Parlament bestellte einen ausführlichen Bericht über Klimaschutz und Klimaadaption. Neben diesem zentralen Auftrag forderte es den Kanton auf, einen Klimaexperten einzustellen, der die Erarbeitung und Umsetzung der Massnahmen zu koordinieren habe. Diesen Experten fand man im heute 52-jährigen Jürgen Ragaller.
Politisch interessierter Biologe
Ragaller studierte erst Biologie, hängte dann ein Zweitstudium in Energie und Umwelttechnik an und kam 2016 als Fachspezialist Energie zum Kanton Luzern. Das Thema Klimaschutz liege ihm am Herzen, sagt er im Telefoninterview aus dem Homeoffice. Politisch sei er sehr interessiert; er ziehe es aber vor, sich in der konkreten Umsetzung zu engagieren.
Nach rund einjähriger Arbeit eines Projektteams, zu dem auch der Klimaexperte gehört, legte der Kanton im Januar den Entwurf des Planungsberichts Klima und Energie vor. Das über 170 Seiten starke Werk befindet sich noch bis am 7. Mai in der Vernehmlassung.
Epidemiologen prägen seit einem Jahr das öffentliche Bewusstsein. Nervt das Klimaexperten wie Sie?Jürgen Ragaller: Überhaupt nicht. Ich bin generell froh, dass die Wissenschaft angehört wird. Was die Pandemie betrifft, können nicht nur Epidemiologen fachliche Unterstützung anbieten, sondern auch Ökonomen. Auch bei Klimaschutz und Klimaanpassung sind mehrere wissenschaftliche Disziplinen gefragt.Weniger Flüge, saubere Gewässer, weniger Pendler: Befeuert die Pandemie den Umwelt- und Klimaschutz?Das könnte man meinen. Tatsache ist aber, dass es sich um Folgen von Massnahmen handelt, die nicht nachhaltig sind, sondern zur Bekämpfung der Pandemie ergriffen wurden – mit grossem Schaden für die Wirtschaft. Der Klimaschutz hingegen bietet der Wirtschaft neue Chancen.Welche zum Beispiel?Bei Gebäudeheizungen zum Beispiel. Öl und Gas stammen nicht aus der Schweiz, die Wertschöpfung ist gering. Wenn wir einheimische erneuerbare Energien zur Stromproduktion und für die Wärme- und Kälteversorgung nutzen, schaffen wir Arbeitsplätze und Wertschöpfung im Kanton Luzern. Potenzial gibt es auch bei der Elektromobilität:Nicht, dass im Kanton Luzern gleich Elektroautos gebaut werden. Aber es könnten Zulieferer für einen stark wachsenden Markt entstehen.
Apropos Elektroautos: Wie wollen Sie den Anteil im Kanton Luzern weiter steigern?Schon in den letzten Jahren ist schweizweit ein hohes Wachstum registriert worden. Wir möchten die vollständige Umstellung auf emissionsfreie Mobilität ermöglichen, indem wir die Ladeinfrastruktur finanziell fördern und über das Planungs- und Baugesetz Vorgaben für den Bau von Ladestationen in Mehrfamilienhäusern definieren.Hauseigentümer sollen also über das Gesetz zum Bau solcher Ladestationen gezwungen werden?Das Ziel wird sein müssen, die Vorteile für Mieter und Vermieter aufzuzeigen. Längerfristig werden sich die Investitionen für beide Seiten lohnen: in Form einer Wertsteigerung oder günstigeren Betriebskosten zum Beispiel.Und den Druck übers Gesetz braucht es trotzdem?Es braucht einen Mix von Massnahmen, um die Klimaziele bis in 30 Jahren erreichen zu können. Dazu gehören auch Gesetzesanpassungen, die vom Kantonsrat und allenfalls der Luzerner Stimmbevölkerung beschlossen werden. Bei den Heizungen ist der Kanton diesen Weg über das Energiegesetz bereits gegangen.Über Gesetze lässt sich vieles steuern. Wir wollen auch den Gemeinden Instrumente in die Hand geben, um etwa Massnahmen im Bereich der Klimaanpassung über die Bau- und Zonenordnungen umsetzen zu können.
Während Gebäude in 3o Jahren emissionsfrei sein sollen, belassen Sie es bei der Landwirtschaft bei einer Reduktion. Wäre eine Landwirtschaft ohne Treibhausgasemissionen überhaupt möglich?Nein, erst recht nicht bei der Tierhaltung. Es liegt in der Natur der Kuh, dass Sie beim Wiederkäuen Methan ausstösst. Auch in der klimafreundlicheren Obst- und Gemüseproduktion fallen Emissionen an. Es ist wichtig, auch in der Landwirtschaft Verbesserungen zu erzielen; zum Beispiel bei der landwirtschaftlichen Produktionstechnik. Es braucht aber auch Strukturanpassungen in der Landwirtschaft. Zur Umsetzung werden wir einen engen Kontakt mit den Bäuerinnen und Bauern suchen. Wichtig ist zudem, dass bei uns generell ein Wandel bei der Ernährung stattfindet.Sie wollen uns vorschreiben, was auf unseren Tellern landet?Nicht vorschreiben, sondern generell über die Folgen unseres Konsumverhaltens aufklären:Was es heisst, billiges Fleisch aus dem Ausland zu importieren; für die Tiere und die Umwelt.
Dass es sich lohnt, weniger Fleisch zu essen, und wenn, dann bewusst und aus der Region. In erster Linie geht es um Information. Diese richtet sich übrigens durchaus auch an den Staat selbst.Wie meinen Sie das?Der Staat hat eine Vorbildfunktion. Darum will der Kanton Luzern etwa mit flexiblen Arbeitsplätzen im neuen Verwaltungszentrum am Seetalplatz mit gutem Beispiel vorangehen. Und darum ist es zum Beispiel ungeschickt, wenn der Bund den Verband der Fleischbranche mit einigen Millionen Franken unterstützt, den Kampf gegen Food Waste aber nur mit einem Bruchteil davon. Wir müssen alle noch lernen und an einem Strick ziehen.Kann man es mit Klimaschutzmassnahmen auch übertreiben, sodass sie der Umwelt schaden? Zum Beispiel bei der Energiegewinnung aus den Seen?Hier müssen wir uns praktisch keine Sorgen machen. Das Wärme- und Kältepotenzial des Vierwaldstättersees zum Beispiel ist für die Versorgung der Seeanstoss-Gemeinden bei weitem ausreichend. Es gibt nur wenige Instrumente, bei denen Vorsicht geboten ist: Erdwärmesonden zum Beispiel könnten sich, wenn sie zu eng aneinander liegen, die Wärme gegenseitig streitig machen. Sonden lassen sich aber beispielsweise mit thermischen Solaranlagen regenerieren.Wobei Heizen künftig wohl weniger ein Thema sein wird als Kühlen, wenn sich das Klima weiter erwärmt. Die Klimaanpassung spielt in der kantonalen Strategie denn auch eine wichtige Rolle. Wenn Sie eine Stadt neu bauen könnten, wie sähe sie aus?Da erlaube ich mir zuerst zu sagen, wie sie nicht aussehen darf: Wie die meisten Städte in südlichen Ländern mit einer Klimaanlage pro Wohnung an den Hauswänden, welche die Umgebungsluft weiter aufheizen. Entsprechend wichtig sind eine klimaangepasste Bauweise, genügend Grünflächen, unversiegelte Plätze, geeignete Materialien und Korridore, durch die genügend kühle Luft strömen kann.Was hat Sie beim Erarbeiten des Klima- und Energieberichts am meisten überrascht?Wie viele Stellen und Fachpersonen daran mitgewirkt haben; sei es in Arbeits- oder Echogruppen. Das war nicht nur für uns sehr wertvoll, sondern auch für viele Stellen selbst, da sie sich vorher kaum zu diesem Thema ausgetauscht hatten.