Claudia Naujoks
Claudia Naujoks
«Eigentlich bräuchte jeder Flüchtling eine Person aus der Bevölkerung, die mithilft», ist Belinda Kieligers feste Überzeugung. Sie ist eine von bislang 70 Urner Einheimischen, die im Rahmen des Freiwilligenprojekts «Mitenand», eine Tandemgemeinschaft eingegangen ist. Das vom Hilfswerk der Kirchen Uri und dem Asyl- und Flüchtlingsdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes entwickelte Projekt besteht seit zehn Jahren und vermittelt Tandems aus Einheimischen und Flüchtlingen im Kanton Uri. Rahel Moges Bizune ist 37 Jahre alt, hat zwei Töchter im Alter von 13 und 17 Jahren und stammt aus Eritrea. Sie wendet sich aktiv an ihre Sozialarbeiterin mit der Bitte um die Unterstützung durch eine Schweizer Frau, denn: «Ich möchte den Kontakt, weil ich alles in der Schweiz kennen lernen will», wie sie sagt.
Im Konzept zur Umsetzung der Integrationsagenda des Kantons Uri vom April 2019 steht: «Sieben Jahre nach Einreise sind vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge vertraut mit den schweizerischen Lebensgewohnheiten und haben soziale Kontakte zur einheimischen Bevölkerung.»
Bizune ist nun seit fast sieben Jahren in der Schweiz und wird seit zwei Jahren von Kieliger begleitet, die ansonsten als Polygrafin in einer Werbeagentur in Altdorf arbeitet. Sie wird über das Urner Magazin «Image» auf das Projekt aufmerksam, traut sich aber lange nicht, sich zu melden. «Ich möchte das machen, ich habe Zeit und ich würde gerne helfen», sind ihre Überlegungen, aber sie hat Respekt vor der Verbindlichkeit und davor, der Aufgabe nicht gerecht zu werden. «Kann ich überhaupt helfen, und wenn ja, wie?», diese Fragen treiben die 28-Jährige um, bis sie sich schliesslich dazu entschliesst. Auch, um der weit verbreiteten Meinung uber Fluchtlinge, den Pauschalisierungen und Vorurteilen etwas entgegenzusetzen.
Zeit nach Gutdünken einsetzen
«Manche Personen sprechen generell schlecht über Flüchtlinge, aber die, die man kennt, seien schon okay, hört man oft beschwichtigend.» Auf unbekannte ausländische Mitburger zuzugehen, empfindet Kieliger selber als schwierig. Denn man könne ja nicht einfach jemanden auf der Strasse ansprechen. Da hilft das Projekt «Mitenand» sehr, indem der Kontakt zwischen den Tandempartnern hergestellt wird. Auch wird zwar eine Vereinbarung mit dem Sozialarbeiter getroffen, in der man den Einsatz zeitlich und qualitativ absteckt, aber die oder der Freiwillige kann selber nach Gutdünken und Bedarf über Zeit und Begleitinhalte entscheiden.
Rahel Moges Bizune ist bei einer Reinigungsfirma angestellt und arbeitet unter anderem bei der Haushaltung eines Hotels in Andermatt mit. Manchmal wirkt sie auch in der Küche mit. Die feste Anstellung ist besonders wichtig, weil sie im Moment verstärkt darauf hinarbeitet, dass ihre Töchter, die sich noch in Äthiopien aufhalten, zu ihr kommen können. So wie Bizune, beabsichtigen auch die beiden, aus ihrer Heimat zu flüchten, weil der Älteren aufgrund ihres Schulabschlusses der Einzug in das eritreische Militär drohe. Darüber hinaus gehört die Familie einer protestantischen Minderheit an, die in Eritrea aufgrund ihrer Religion verfolgt werde.
Nachzug mit Hindernissen verbunden
Bizune erzählt unter Tränen, dass sie ihre Töchter sehr vermisse und auch Angst um sie habe. Die Alleinerziehende wird bei der Bemessung für die Genehmigung eines Familiennachzugs genauso behandelt, wie ein Elternpaar. Daraus ergeben sich einige für sie schier unüberwindbare Hindernisse: «Die Schweiz will Beweise, dass Rahels Ex-Mann eine neue Familie hat, dass die jungen Mädchen in Äthiopien alleine sind, dass Rahel eine Vollzeitstelle hat und finanziell in der Lage ist, die Familie zu versorgen. Vom Vater der Mädchen ist keine Unterstützung zu erwarten», fasst Kieliger zusammen. «Einerseits versteh ich, dass alles genau geprüft wird, weil es Leute gibt, die das ausnutzen. Aber die wirtschaftliche Seite scheint wichtiger zu sein, als die humanitäre. Wenn man wie ich persönlich dabei ist, sieht man, wie viel Leid und Hoffnungslosigkeit das bedeuten kann. Dadurch wird auch die Integration erschwert.» Es brauche Zeit, neue Leute kennen zu lernen. Wenn man von so grossen Sorgen vereinnahmt werde, sei es schwierig, sich dem Leben und den Leuten im neuen Land zu öffnen.
Bizune würde zum Beispiel sehr gerne weiterhin Deutschkurse besuchen oder mit Kieliger die Sprache üben. Die Eritreerin hat bereits das Sprachniveau A2 abgeschlossen, das nötig war für ihr Praktikum im Restaurant Schützenmatt in Altdorf. Nun aber fehlt ihr die Zeit, denn sie hat aufgrund des finanziellen Drucks für den Familiennachzug einen zweiten Job angenommen. Auch das gehört zu einer Begleitung dazu, dass man mit der Geschichte des Menschen konfrontiert wird und sich damit auseinandersetzt. Der schwierigen Themen nehmen sich auch die Sozialarbeiter des Roten Kreuzes an. Sie begleiten das Tandem engmaschig und unterstützen die Begleitpersonen der Flüchtlinge mit Rat und Tat, damit die Freiwilligen sich nicht übernehmen und sich auf eine gesunde Art abgrenzen.
Eine Chance, andere Kultur kennen zu lernen
Wenn sie es zeitlich einrichten kann, begleitet Kieliger Bizune als Unterstützung zu wichtigen Gesprächen, zum Beispiel auch mit ihrem Arbeitgeber oder mit Ämtern und Behörden. Denn immer wieder komme es zu Missverständnissen, die auf die noch fehlenden Sprachkenntnisse der Eritreerin und auch auf fehlendes Wissen über Gepflogenheiten und Abläufe hierzulande zurückzuführen seien, sagt Kieliger. Da sei es wichtig, diese Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, denn allen sei eine reibungslose Zusammenarbeit wichtig. Alles trage zu einer Integration Bizunes in die Schweizer Gesellschaft bei und helfe ihr, hier anzukommen.
«Umgekehrt ist es für mich eine tolle Chance, Rahels Kultur kennen zu lernen. Wir treffen uns auch bei ihr zu Hause und dann röstet sie eritreischen Kaffee für uns. Oder sie kocht etwas Traditionelles aus ihrer Heimat und erzählt, wie Besuche dort zelebriert werden», freut sich Kieliger. Die beiden strahlen sich an bei der Erinnerung an schöne gemeinsame Stunden. Man spürt die freundschaftliche Verbundenheit zwischen den beiden, obwohl sie eine Zufallsgemeinschaft sind. Doch Kieliger hält fest: «Ich hatte von Anfang an ein gutes Gefühl.»
Hinweis: Wer sich für eine Teilnahme am Tandemprogramm interessiert, kann sich sich an das Hilfswerk der Kirchen Uri wenden – unter 041 870 23 88 oder info@hilfswerkuri.ch.