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«Seitenblick»: Wunderliche haben keinen Dachschaden

Redaktorin Vanessa Varisco über das Wunderlichsein – und weshalb Mitmenschen das oft falsch deuten.

Mich gibt es in zwei Versionen: Die eine ist seriös. Sitzt in der Vorlesung gern in der ersten Reihe, arbeitet als Journalistin und rattert akribisch den sportlichen Trainingsplan ab. Und die andere... na ja, die andere Version kniete gestern vor einer Steinmauer, schaute den Ameisen bei der Arbeit zu und flüsterte fasziniert «boom», wenn zwei Ameisen auf ihrer Strasse zusammenstiessen. Danach verbrachte ich zwei Stunden damit, herauszufinden, wieso die werten Ameisenkolleginnen und -kollegen so häufig gegeneinander laufen. (Ich will Sie an dieser Stelle nicht spoilern, aber lesen Sie sich zu diesem Phänomen ein, es lohnt sich!)

Vor allem die letztere Version meiner selbst stösst bei meinen Mitmenschen immer wieder auf Verwunderung. Mein Grossvater, ein waschechter Bayer, sagte früher dazu mit einem Lachen: «Des isch plemplem.» Ich bin sicher, einen Teil meiner Wunderlichkeit habe ich von ihm, genauso wie die Beharrlichkeit und Sturheit. So besteht er bis heute darauf, dass in Italien keine Quallen an den Strand gespült werden, sondern «Lungos». So nannte er sie einfach. Woher er das hat? Ich weiss es nicht, aber es ist mega!

Anderes Beispiel seiner wunderlichen Beharrlichkeit: Wir fahren Fahrrad. Er ist ein grosser Velofahrer; schon immer gewesen, hat Strecken wie Zürich-Rom, Zürich-Barcelona und das Stilfser Joch hinter sich gebracht. Auf unserer gemeinsamen Route schüttet es nach ungefähr 50 Kilometern wie aus Eimern. Er fährt rechts ran. Gut, denke ich, er wird eine Lösung haben. Hat er: «Mir machen des jetzt so, mir fahren einfach. Immer weiterfahr'n, dann werden d'Muskeln net kalt.» Bitte?

Genau so würde ich das heute auch lösen. Einfach immer weiter. Damals hielt ich es gelinde ausgedrückt für wunderlich. Ich erinnere mich gerne an seine wunderlichen Eigenschaften – denn dahinter steckt auch viel Erfahrung und Neugierde, die ich damals noch nicht greifen konnte. Nur weil wir etwas nicht verstehen, muss es nicht eigenartig sein.

Beweisstück A: Mein Grossvater war Ingenieur und bastel- und technikaffin. In den 1970ern kaufte er ein neues Auto und sägte am nächsten Morgen ein Loch ins Dach. Der spinnt, mussten die Nachbarn denken. Aber nein: Er hatte selbst ein Schiebedach konzipiert. Die Wunderlichen haben also meist keinen Dachschaden, sondern nur Mut für neue Wege.

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