Carl Bossard*
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Carl Bossard*
«Unter zehn Kindern konnte kaum eins das Abc», schreibt der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi 1799 im «Stanser Brief». Und er fügt bei: «Von anderem Schulunterricht war noch weniger die Rede.» Einen regelmässigen Schulbesuch kennt die Zeit nicht. So bleibt «Lesen wahrlich ein seltenes Glück», wie es in den Akten heisst. Der Kaplan und Schullehrer von Giswil sagt es frank und frei:
«Ich kenne mehrere ‹Munizipalbeamte›, welche keinen Buchstaben weder schreiben noch lesen können.»
Das ist die harte Realität um 1800.
Kinder sind wirtschaftliche Ressourcen
Schule und Unterricht haben es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein schwer. Im öffentlichen Empfinden braucht es sie schlicht nicht. Ein Grossteil der Bevölkerung ist arm, ihr Leben kärglich und der Unterricht für die meisten ein Luxus. Die Kinder sind Arbeitspotenzial. In der bäuerlich-gewerblichen Gesellschaft von Ob- und Nidwalden hat gute Bildung einen bescheidenen Stellenwert. Sie bleibt das Vorrecht weniger. Für die meisten ist das Brot wichtiger als das Buch, der Stall wertvoller als das Schreiben. Eine Kindheit im heutigen Sinn gibt es kaum. Die jungen Menschen helfen auf Feld und Hof. Früh erfolgt der Übergang ins arbeitstätige Erwachsenenalter.
Eigentliche Schulhäuser existieren darum nicht. Der Unterricht findet meist in einer schummrigen Schulstube, oft im Pfarr- oder im Organistenhaus statt, manchmal auch in einem besseren Kellerlokal. In Wolfenschiessen ist die Schulstube «viel zu klein und dieselbige ist zugleich die Wohnstube des Schullehrers». Auch Beckenried verfügt nur über einen zu engen Schulraum, sodass der Kaplan noch die Wohnstube bereitstellt, so die Quellen.
Schulunterricht im privaten Zimmerlein
In Nidwalden kennt einzig Stans eine Art Schulhaus. Kurz nach dem Dorfbrand von 1713 baut die Gemeinde an der Knirigasse ein kleines Holzgebäude, das sogenannte Schulherrenhaus. Es wirkt 1799 überaus «baufällig». Eine einzige, «sehr elende» Stube dient dem Unterricht. Kaum anders sieht es in Obwalden aus. Engelberg kennt nicht einmal eine öffentliche Schulstube. Jeder freiwillige Schulmeister «hält so viel Kinder, als er bekam oder sein eigenes Stübchen fassen konnte». In Sarnen wird in einem «übel konditionierten Zimmer» unterrichtet, und in Kerns ist es «gar zu nieder», berichten die Akten. Lediglich in Sachseln steht «ein bequemes Pfrund- oder Schulhaus». Aus Alpnach heisst es dagegen, es sei «ein altes baufälliges» Gebäude.
Der Weg aus der muffig-maroden Schulstube ins geräumig-grosse Schulhaus des späten 19. Jahrhunderts ist steil und steinig. Ein Unterrichtsobligatorium lässt sich nicht durchsetzen. Man braucht die Kinder weiterhin als Hilfskräfte im harten Alltag. Es ist Pestalozzi, dieser grosse Erzieher und Sozialreformer, der Ernst macht mit einer der gewaltigsten Ideen der Welt: dass die Welt verbesserbar sei, und zwar durch Bildung. In kühner Weise wendet er diesen neuen Glauben auf die Kinder an. Er erkennt in ihrer Verbesserung den ersten Schritt zur Verbesserung des Ganzen; seine Lebensarbeit richtet er darauf aus. Doch es dauert lange; nur zäh kommt das Ganze voran. Die Geburtsstunde der Schweizer Volksschule liegt in der Helvetik (1798–1803); es ist die Zeit, als Pestalozzi in Stans wirkt und sein Waisenhaus errichtet. Mit ihrer bahnbrechenden Schulpolitik legt die Helvetik die pädagogische Frühlingssaat. Doch der Moment ist noch nicht gekommen. Erst der Bundesstaat von 1848 nimmt ihre Ideen wieder auf. Die Schweiz realisiert ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was die Helvetische Republik erreichen wollte: eine umfassende und für alle Kinder obligatorische Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates.
Von der schmalen Schulstube zum majestätischen Bildungstempel
Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung von 1874 müssen alle Kantone die Primarschulpflicht durchsetzen und einen unentgeltlichen Unterricht sicherstellen. Nun geht es vorwärts. Die Expansion der Bildung nach 1850 ruft nach Raum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löst das Schulhaus die alte Schulstube ab. Die oft stickige Enge des Zimmers weicht der Weite eines Gebäudes. Jede Gemeinde baut ihr Schulhaus, oft mit klassizistischen Säulen, meist mit klar gegliederter Fassade, weiten Fenstern und einem grossen Treppenaufgang: Die Kinder steigen nun zur Bildung empor – und durchschreiten für den Unterricht die grosse Eingangstüre. Symbol und Auftrag zugleich.
Neben der Kirche erhält vielfach auch das Schulhaus eine Uhr. Sie signalisiert die neue Epoche: Das Schulleben geht im Takt – die Zeit der Uhr als standardisierte Normalität. Zeiten der Schule sind Zeiten des Lernens.
Aufbruch in die Zukunft
Das Schulhaus wird überall zum stolzen Fortschrittszeichen. 1879 zum Beispiel weiht die Schulgemeinde Stans das neue Knabenschulhaus auf der Tellenmatt ein – mit Pomp und Pathos, mit Weihwasser und Weihrauch, mit Lob und Lied.
Der festlich-feierliche Akt vereint das kommunale und kirchliche Element. Der Bau sei ein Werk, das «der Gemeinde zur Ehre, der lieben Jugend zum Wohl und Heil gereicht [...] für Zeit und Ewigkeit», meint der Stanser Dorfpfarrer und Schulpräsident in seiner Rede. Gross ist die Zuversicht und hoch die Erwartung, die Kirche und Behörde auf die Schule projizieren:
«Gebt mir eine wahrhaft gute Schule, und ich verspreche Euch eine glückliche Gemeinde!»
Ähnlich klingt es bei der Einweihung vieler Gemeindeschulhäuser. 1911 wird das Dorfschulhaus Sarnen der Öffentlichkeit übergeben – mit feierlichem Festzug und frohem Festspiel. «Der neue Schultempel, mit dem sich die Gemeinde Sarnen ein glänzendes Zeugnis ihrer Erziehungs- und Schulfreundlichkeit ausgestellt hat, besitzt neun sehr geräumige Schulsäle. Sie entsprechen allen modernen Anforderungen punkto Licht, Luft und Hygiene», wird am Festakt ausdrücklich betont. Das Gebäude umfasst sogar grosse Lokale für Badeeinrichtungen, Milchsuppen und Küchen inklusive drei Lehrerwohnungen.
Ganz ähnlich tönt es in Alpnach, als es heisst: «Endlich ist das Werk vollendet und der fromme Meister sendet seinen Dank zu Gottes Thron.» 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, weiht das Dorf sein neues Schulhaus ein. Damit hätte «Alpnach ein Werk geschaffen, das nicht bloss der Gemeinde, sondern dem ganzen Lande zur Ehre gereiche», verkündet der Obwaldner Erziehungsratspräsident. Und er hofft, «dass das neue Haus jetzt wirklich auch eine Bildungsstätte und nicht einfach hohle Lehrstätte, sondern auch Erziehungsstätte für den Charakter der Kinder werde und bleibe». Auch in Alpnach blicken Behörden und Bevölkerung mit gestärktem Selbstwert auf den neuen Bildungstempel.
Bildung ist ein Bergaufprozess
Das «Volk im Zwilch», die einfachen Leute, aus seiner Not herausführen und emporführen – und es dem «Volk in Seide» über Bildung gleichstellen, das ist Pestalozzis Idee, davon träumen die Repräsentanten der Helvetik. Doch Bildung ist anstrengend und anspruchsvoll, lernen und sich bilden ein steter Bergaufprozess und kein linearer Schnellpfad – das weiss die Gründergeneration der Schweizer Volksschule. Die Treppe zum Schulhaus symbolisiert es. Viele alte Schulhäuser erinnern an diesen Aufbruch – und den Aufstieg zur Bildung.
*Der Autor Carl Bossard (71) ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der Kantonalen Mittelschule Nidwalden, des «Kollegi» in Stans, und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Er beschäftigt sich ausserdem mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.