Roger Rüegger
Roger Rüegger
Für Sie ist Elektromobilität längst selbstverständlich. Wie lange fahren Sie schon mit Strom?Andreas Müller: Den Elektro-Rollstuhl besitze ich seit 2005. Ich behaupte gerne, dass Tesla die Idee bei mir abgeschaut hat.Wer weiss, der Roadster von Tesla kam 2008 auf den Markt. Wie bewährt sich Ihr Fahrzeug im Winter, stecken Sie auch mal im Schnee fest?Das kann höchstens passieren, wenn ich es herausfordere. Als Mitte Januar die Trottoirs mit Schnee bedeckt waren, überlegte ich mir schon, ob ich die Fahrtauglichkeit testen soll, oder ob ich nicht besser auf die Strasse ausweiche.Wofür entschieden Sie sich?Für die trockene Variante. Erzwingen wollte ich nichts, daher benutzte ich von der Stiftung Rodtegg bis hinunter in die Stadt die Strasse. Dort wechselte ich aufs Trottoir.Wo dürfen Sie den Rollstuhl überhaupt fahren?Wir sind berechtigt, die Strasse zu benutzen. An einer internen Weiterbildung informierte uns ein Polizist über die Regeln. Auf mein Recht bestehe ich jedoch nicht, weil ich den Verkehr nicht behindern will.Das wird dennoch geschehen, weil Sie mit Ihrer Kombination auch auf dem Trottoir ein Blickfang sind. Aus welcher Werkstatt stammt Ihr roter Anhänger?Der ist spitze, nicht wahr? Ja, Aufmerksamkeit ist mir mit dieser Spezialkonstruktion sicher. Die fertigte mein Bruder nach meinen Bedürfnissen an.Welches sind Ihre Bedürfnisse?Als Kurierfahrer brauche ich Laderaum, der für mich zugänglich ist. Ich betreue Kundschaft in der ganzen Region. Zudem transportiere ich Briefe und Pakete der Rodtegg-Bewohner zur Post beim Bahnhof.Als Kurier überzeugen Sie. Zu unserem Termin trafen Sie auf die Minute ein. Nach Ihnen kann man wohl die Uhr richten?Soweit mögIich erscheine ich immer zur vereinbarten Zeit – und erwarte das auch von anderen. Das ist mir wichtig.Bedeutet «soweit möglich» falls nicht der Saft der Batterie ausgeht?Es geht eher darum, dass ich für viele Tätigkeiten mehr Zeit benötige als andere Leute. Strom habe ich immer. Nur einmal blieb der Rollstuhl stehen, als ich mehrere Fahrten tätigte und die Batterien nie laden konnte. Gegen Abend schickte mich die Chefin noch einmal los. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich das Ziel erreichen würde, die Energie für den Retourweg aber knapp werde.Und dann?Wie angekündigt. Ich lud die Batterie mit dem Ladekabel in einer Beiz und bestellte einen Kaffee.Wenn die Batterie flach ist, rufen Sie also keine Pannenhilfe?Ich komme alleine zurecht, weil das Ladegerät eingebaut ist. In diesem Fall reichte eine halbe Stunde aus, um wieder mobil zu sein. Weil mein Auftrag gegen Feierabend war, blieb ich in der Stadt. In der Freizeit bin ich gerne auf Tour.Wo trifft man Sie an?Da ich ein Generalabonnement besitze, fahre ich häufig Zug. Gerne zum Kaffee auf der Piazza Grande in Locarno oder an Eishockeyspiele des EVZ.Sie als Fachmann: Wie gut ist die Barrierefreiheit in Luzern?Für mich ausgezeichnet. Wenn es mir nicht passt, kann ich aufstehen und kurze Strecken zu Fuss gehen. ÖV fahre ich meist ohne Rollstuhl. Wenn ich eine Sitzgelegenheit habe und die Kräfte einteilen kann, geht das.Wobei Sie nicht immer auf dem Boden bleiben.Noch lieber als den Zug nehme ich den Gleitschirm. Vier Tandemflüge gönnte ich mir bis jetzt.Diese Abenteuer haben Sie auf dem linken Arm als Tätowierungen verewigt. Hoch über der Erde sind Sie wohl in ihrem Element?Sehr, was auch mit meiner eingeschränkten Mobilität zusammenhängt. Meine Beine kann ich ohne Stützschienen nicht gebrauchen, dazu fehlt mir die Kraft. Wenn ich neue Schienen bekomme, schenke ich mir zum neuen Lebensabschnitt neben einem Tattoo auch einen Tandemflug.Mit Leidenschaft engagieren Sie sich bei Festivals. Wie läuft Ihr Einsatz?Bei den letzten vier Austragungen des B-Sides auf dem Sonnenberg half ich beim Aufstellen. Meine Aufgabe war zum Beispiel, Arbeitsschritte zu planen oder Werkzeuge bereit zu stellen. Die schweren Arbeiten übernehmen aber andere, ich habe mich gut arrangiert.Wie ist der Helfereinsatz zustande gekommen?Durch einen Bekannten, der beim Aufbau mithilft. Die Sache interessierte mich, so begleitete ich ihn einmal und blieb dabei.Die Konzerte am Festival verfolgen Sie auch?Selbstverständlich. Nach dem Aufbau ist mein Einsatz beendet. Das B-Sides-Konzept spricht mich an, auch wenn meine Lieblingsband Bon Jovi einen anderen Musikstil als die Festival-Bands spielt. Auf Festivals, Kaffee auf der Piazza, Tandemflüge und EVZ-Spiele müssen Sie derzeit verzichten. Wie kommen Sie mit den Coronaeinschränkungen klar?Obwohl ich gerne verreise, überlege ich mir dreimal, ob ich den Zug besteigen und ins Tessin oder ins Bündnerland fahren soll. Lange Distanzen meide ich, da es ohnehin nicht möglich ist, einen Kaffee an einem schönen Ort zu geniessen.Neben Musik mögen Sie auch Sport. Bei den Lucerne Sharks spielen Sie Powerchair Hockey.Bis zur Saison 2018 war ich als Festschläger im Team. Der Spielstock war am Rollstuhl befestigt. Aufgabe der Festschläger ist, die Gegner zu blocken, um den Handschlägern den Weg zum Tor zu ermöglichen. Ich schoss ebenfalls Tore, was viele erstaunte. Ich sehe mich als T-Rex. Der konnte seine kurzen Arme auch nicht nutzen. Dennoch erreichte er seine Ziele und alle hatten Respekt.Wie erfolgreich waren Sie beim Hockey?Im Jahr meines Austritts wurde ich mit den Sharks Schweizer Meister.Auf dem Höhepunkt der Rücktritt. Bravo. Fährt man beim Spiel dieselbe Maschine wie privat?Die verschiedenen Geräte sind anders aufgebaut. Aber ich behandle alle mit Würde und Respekt.Polieren Sie Ihren Rollstuhl so liebevoll, wie es manche Leute mit Autos und Motorrädern tun?Nicht ganz. Im Winter wasche ich den Rollstuhl täglich mit einem nassen Tuch. Das Streusalz fordert mich. Einen Fahrzeugkult betreibe ich nicht, aber es ist schon wichtig, dass ich ein gutes Erscheinungsbild abgebe.