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Luzern

Plädoyer für eine Wertedebatte

Stephan Buhofer*, Rechtsanwalt und Mitglied der CVP Stadt Luzern, schreibt in seinem Gastbeitrag über die Wertedebatte in der Gesellschaft und in der CVP.
Stephan Buhofer (Bild: PD)

Stephan Buhofer

Die CVP Schweiz hat im Dezember ein neues Positionspapier verabschiedet, in welchem sie eine Wertediskussion über das Zusammenleben zwischen eingewanderten Kulturen und der bestehenden Gesellschaft postuliert. Sie stellt fest, dass sich im Zuge der Migration zunehmend Menschen in der Schweiz aufhalten, denen grundlegende Aspekte unserer Gesellschaftsordnung, namentlich die Freiheits- und Gleichheitsrechte und der Wertepluralismus, fremd sind. Sie warnt vor Parallelgesellschaften und Radikalisierung, insbesondere ausgehend vom islamischen Fundamentalismus.

Der Vorschlag, die Problematik mit einer Wertedebatte anzugehen, ist zu begrüssen. Die CVP richtet ihr Augenmerk auf den Umstand, dass sich in der Schweiz aufgrund der Einwanderung vermehrt unterschiedliche religiöse und kulturelle Werte gegenüberstehen. Sie möchte die Integration und das friedliche Zusammenleben fördern, wobei Einwanderer ihren Platz im Einklang mit unserer Gesellschaft und den hier etablierten Sitten suchen sollen.

Die Werte, um welche es geht, sollen also nicht verhandelt, sondern deren Gültigkeit bekräftigt werden. Werte sind schliesslich etwas eher Beständiges, das man verteidigt. Sie haben eine ethische Dimension. Wozu dann noch eine Debatte? Diese bezweckt gemäss dem CVP-Positionspapier, dass wir uns als Gesellschaft unserer zentralen gemeinsamen Werte bewusst werden. In der Tat: Als Orientierungspunkt in allen Lebensbereichen kommt den Werten auf der gesellschaftlichen Ebene eine gewisse Allgemeinverbindlichkeit zu, was bedeutet, dass man sich auf sie verständigt. Um diesen Konsens herrscht in der demokratischen Gesellschaft ein Tauziehen. Hier findet statt, was wir als Wertewandel empfinden.

Und dieser Wandel ist ein eigentliches Merkmal unseres Zeitalters. Menschen, welche vor zwei oder drei Generationen gelebt haben, würden die heutige Welt gerade aufgrund der veränderten Wertvorstellungen kaum wiedererkennen. Der historisch wichtigste Wertekompass, die Religion und Kirche, hat stark an Einfluss verloren, während eine omnipräsente und weitgehend wertefreie Populärkultur auf dem Vormarsch ist. Prinzipien wie Disziplin, Pflichterfüllung, Sittlichkeit und Genügsamkeit aus einer entbehrungsreicheren Zeit sind den Annehmlichkeiten der modernen Wohlstandsgesellschaft wie Komfort, Sicherheit und Unterhaltung gewichen. Es haben aber auch Humanität und Gleichberechtigung Einzug gehalten, wo früher Unterdrückung und Diskriminierung herrschten.

Innerhalb unserer Gesellschaft findet also ebenfalls eine «Migration» von Werten statt. Neue und alte, einander fremde Einstellungen stehen sich gegenüber, insbesondere zwischen den Generationen. Die technischen und sozialen Entwicklungen bringen veränderte Lebensgewohnheiten und Gestaltungsmöglichkeiten mit sich. Und das Neue findet heute rasch Akzeptanz. Es ist Teil unserer Kultur, unseres Wirtschaftssystems. Der einst weit verbreitete Konservatismus ist auf dem Rückzug.

Wo Neues entstehen soll, muss Altes weichen. Verschiedenste Werte ideeller sowie materieller Art und die damit zusammenhängenden Fertigkeiten sind vom Wandel betroffen. Um einige Beispiele zu nennen: Das Internet gefährdet die Existenz von Läden, Zeitungen, Bibliotheken und weiteren altbewährten Einrichtungen; die schrankenlose Telekommunikation beeinträchtigt den normalen Austausch mit der unmittelbaren Umwelt; Hunderte von Fernsehprogrammen im Angebot konkurrieren mit kreativeren Freizeitbeschäftigungen; erleichterte Ehescheidungen lösen die Protektion der Familie ab und, folgenschwer, der Komfort der fossilen Energienutzung stört das klimatische Gleichgewicht auf der Erde.

Doch wir setzen uns auf der gesellschaftlichen Ebene nicht regelmässig mit den Vor- und Nachteilen einer Entwicklung auseinander und entscheiden uns bewusst für einen Weg. Die Wahl wird oft dem Individuum überlassen oder durch systemimmanente Faktoren beeinflusst, wie dem Fortschritt, dem Wachstum, dem Trend. Diskutiert wird vor allem dann, wenn es um eine allfällige staatliche Regulierung geht. Diese widerspiegelt zwar ebenfalls Werte, kann und soll aber das persönliche und kollektive Wertebewusstsein nicht vollständig ersetzen.

Eine Wertedebatte geht tiefer als die Erörterung konkreter Sachfragen. Sie veranlasst uns, kritisch über den langfristigen Verlauf einer gesellschaftlichen Entwicklung nachzudenken. Eine Abwägung vorzunehmen, einschliesslich zwischen der Weiterentwicklung und dem Bewahren. Und vielleicht auch einmal auf eine mögliche Neuerung zu verzichten oder einen Schritt zurück zu tun, weil wir das als vernünftiger erachten. Während früher nicht alles besser war als heute, ist heute auch nicht alles besser als früher. Menschliche Kulturen entwickeln sich sowohl aufwärts als auch abwärts. Wo man selbst steht, ist jeweils schwer abzuschätzen, wenn man sich mitten im Geschehen befindet. Ein Umstand, den uns die Geschichte lehrt.

Wie offen und ehrlich führen wir eine entsprechende Diskussion heute? Wissen wir, welche Werte die Menschen genau haben und wie sie über deren Wandel, Vernichtung oder Neuschaffung denken? Sind sie zufrieden mit dem Lauf der Dinge? Diese Fragen stellen sich nicht nur im Zusammenhang mit der Migration, sondern grundsätzlich im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Vielleicht stösst man in diesem Kontext auf unterschwellige Empfindungen in der Bevölkerung, welche der Politik bisher verborgen geblieben sind. Die CVP wäre als werteorientierte Partei, welche auf eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit dem Thema zurückblicken kann, prädestiniert dafür, eine generelle Debatte auf hohem Niveau zu führen.

*Stephan Buhofer, lic. iur. (* 1969), ist Rechtsanwalt und seit letztem Sommer Parteimitglied der CVP Stadt Luzern. Zuvor lebte er während zehn Jahren im Ausland und arbeitete unter anderem in den USA sowie für UNO-Organisationen an verschiedenen Standorten. Buhofers Beitrag knüpft an den Gastbeitrag von Silvio Bonzanigo («Das hohe C im freien Fall») an, in dem am 30. November 2018 der Zustand der CVP thematisiert wurde.

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