Cornelia Bisch
Der meist Fotografierte ist der giftig Rote mit den weissen Tupfen, der meist Begehrte der schmackhafte Braune, der jedes Gericht herrlich veredelt. Fliegen- und Steinpilze bilden jedoch nur die Spitze des Eisbergs im Reich der Pilze, das sich laut Pilzexperte Andrin Gross der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in einem unendlichen und noch immer weitgehend unerforschten Geflecht über und unter der Erde ausbreitet.
«Wir unterscheiden drei Kategorien von Pilzen», führt Gross aus. «Zirka 50Prozent aller Arten bauen totes Pflanzenmaterial ab. Je 25 Prozent leben als Symbionten oder Parasiten mit und von den verschiedensten Pflanzen.» Manche davon seien so stark spezialisiert auf einen ganz besonderen Wirt, dass sie ohne ihn nicht überleben könnten. «Deshalb versuchen wir, Wälder und Landschaften so artenreich wir möglich zu erhalten», betont Martin Ziegler vom Zuger Amt für Wald und Wild.
Heute lässt man Altholz liegen
Die beiden Fachleute machen sich zu einer Begehung des Erholungs- und Naturschutzgebietes Steinhauser Wald auf, dessen warme Herbstfarben im Sonnenlicht schimmern. Es gibt lichte und dunklere Stellen mit dichtem oder spärlichem Bodenbewuchs sowie die verschiedensten Arten von Bäumen, Pflanzen und Pilzen. «In den letzten Jahrzehnten hat man viel dazugelernt in puncto Diversität», erzählt Ziegler.
Der Wald werde nicht mehr aufgeräumt, man lasse Altholz liegen, das Lebensraum für unzählige Tiere, Pflanzen und Pilze bilde. «In einer einzigen Handvoll Walderde leben mehr Lebewesen als es Menschen auf der Erde gibt.» Pilze seien neben den Insekten die artenreichste Gruppe aller Lebewesen, ergänzt Gross. «In der Schweiz gibt es über 6000 Gross- und bis zu 20000 Kleinpilze, während man nur zirka 3000 Blüten- und Farnpflanzenarten unterscheidet. Ausserdem ist einer der Pilze – der Hallimasch – mit seinen oft über viele Quadratkilometer hinweg reichenden unterirdischen Verästelungen das grösste Lebewesen der Welt.»
Unsichtbare Helfer
«Ah, hier steht ja noch ein grosser Steinpilz», ruft Andrin Gross aus. Dies, obwohl die Speisepilzsaison eigentlich schon vorüber sei. Es hausen in der schön gewachsenen Delikatesse denn auch mehrere Schnecken, die sich dort ihr privates, kleines Schlaraffenland eingerichtet haben.
«Und hier haben wir einen Eispilz», erklärt Gross und deutet auf eine schleimige Masse, die frischem Rotz zum Verwechseln ähnlich sieht. «Auch Eispilze sind essbar», verrät der Fachmann. «Ich würde aber eher davon abraten.» Die gallertartige Masse nehme verschiedenste Substanzen und Erreger wie den Fuchsbandwurm auf, die weder besonders hygienisch noch bekömmlich seien. Einige stattliche Exemplare des Maronenröhrlings und des Rotfussröhrlings landen jedoch in der Sammeltüte fürs abendliche Risotto.
Pilze sorgen für Ordnung im Wald
Pilze, die in vielen Fällen kaum erkennbar sind, übernehmen laut der beiden Fachleute einige der wichtigsten Funktionen in Wald und Landschaft, können diese aber auch gefährlich bedrohen. «Jene, die Totholz abbauen, sorgen in einem natürlichen Prozess für Ordnung im Wald», stellt Ziegler fest.
Ohne deren Arbeit wären die Regenwürmer bei der Zersetzung von Biomasse praktisch auf sich allein gestellt und damit überfordert, zumal sie nicht in jeder Erdkonsistenz leben können. «Der Wald würde in Laub- und Holzmassen ersticken.» Ziegler weist auf einige besonders eindrückliche Exemplare hin, etwa die Buckel- und Schmetterlings-Tramete, die sich an einem verrottenden Baumstrunk gebildet haben.
Symbionten unterstützen Pflanzen beim Wachstum
Die Symbionten oder Mykorrhiza-Pilze würden die meiste Zeit verborgen im Waldboden existieren und nur im Herbst erscheinen, wenn sie Fruchtkörper bildeten. «Sie leben in und an Baumwurzeln und unterstützen die Pflanzen beim Wachstum.» Es handle sich dabei um eine geniale Zusammenarbeit. «Die Pilze filtern Schad- und Nährstoffe aus Wasser und Erde und geben Letztere an den Baum weiter, dessen Wachstum sich auf diese Weise beschleunigt.»
Die Pilze ihrerseits erhielten vom Baum Assimilate (Zucker), welche die Pilze ohne eigene Fähigkeit zur Fotosynthese nicht herstellen könnten. «Die Pilze sind auf den Baum angewiesen, der Baum jedoch könnte ohne sie überleben, würde aber wesentlich langsamer wachsen und hätte damit in einer normalen Waldgesellschaft keine Chance.» Ausserdem schützten die Symbionten ihn vor Angriffen parasitärer Pilze.
Eine weitere Form der Symbiose sei bei Boden-, Stein- und Baumflechten zu beobachten, erklärt der Biologe. «Sie werden von Algen und Pilzen gebildet.» Auch deren Zusammenarbeit funktioniere nach ähnlichen Grundsätzen.
Parasitäre Pilze schwächen ihre Wirte
Andrin Gross begutachtet eine stattliche Buche, deren Blätter nekrotisch braune Stellen aufweisen. «Dieser Baum ist von einem Pilz befallen, den man erst kürzlich entdeckt hat», berichtet er. Die Blätter weisen eine kaum sichtbare, feine Weisssprenkelung auf. «Das sind die Fruchtkörperchen des Pilzes. Die Blattnekrosen, die er verursacht, lassen die Blätter zu früh absterben, sodass der Baum die im Blatt vorhandenen Nährstoffe nicht einlagern kann.» Die Buche werde zwar mit diesem Pilz fertig, aber er schwäche sie und mache sie anfällig für Krankheiten oder andere Schädlinge.
Mit einheimischen parasitären Pilzen, zu denen auch die häufig anzutreffende Gruppe der Hallimasche gehört, werde die Natur in der Regel fertig, sagt Gross. Er weist auf eine Eichenholzbank am Wegrand hin, auf deren Rückseite Dutzende dieser Pilze versuchen, sich die robuste Sitzgelegenheit einzuverleiben. «Das könnte noch eine schöne Weile dauern. Die Gerbsäure des Eichenholzes ist selbst für Pilze eine Herausforderung», vermutet Ziegler gelassen und fotografiert die prächtig ausgebildeten, gelblich braunen Gewächse. «Übrigens», plaudert er vergnügt aus dem Nähkästchen, «der Name des Pilzes kommt vom derben Ausdruck ‹Hall im Arsch›, denn der Verzehr der Pilze verursacht manchmal üblen Durchfall.»
Gefahr durch eingeschleppte Pilze
«Bedrohlich sind jedoch eingeschleppte Arten», betont Andrin Gross. Aktuell würden die Forscher gegen die Eschenwelke kämpfen, die durch einen aus Ostasien stammenden, parasitären Pilz verursacht werde. Es handle sich dabei um das Falsche Weisse Stängelbecherchen, das im Blatt der Esche lebe. «Falsch deshalb, weil es dem einheimischen Stängelbecherchen zum Verwechseln ähnlich sieht, den Baum aber in viel dramatischerer Weise angreift.» 90 Prozent der befallenen Eschen stürben innert kurzer Zeit ab, nur etwa 5 bis 10 Prozent würden überleben und eine Resistenz gegen den Schädling entwickeln. Der Mandschurischen Esche in Japan könne der Schädling hingegen kaum etwas anhaben.
«Solche Entwicklungen, die mit der Globalisierung einhergehen, sind ein grosses Problem für die einheimischen Arten.» Forscher würden nach Möglichkeiten suchen, einzugreifen. «Dafür benötigen wir aber umfassende Kenntnisse über die Pilze.» Kenntnisse, die Andrin Gross im Rahmen seiner Tätigkeit als Leiter des nationalen Daten- und Informationszentrums der Schweizer Pilze (Swiss Fungi) laufend sammelt (siehe Kasten). «Der beste Schutz, den wir der Natur bieten können, ist der Erhalt der Diversität», ist Martin Ziegler überzeugt. «Es geht nur mit der Natur, nicht gegen sie.»