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Luzern

Nach 32 Jahren ist Schluss: Wie Dorfarzt Schöpfer Escholzmatt prägte

32 Jahre lang war Josef Schöpfer Hausarzt in Escholzmatt. Wie nimmt man Abschied, wenn Beruf und Leben eins geworden sind?
Über drei Jahrzehnte im Dienst der Gemeinde: Josef Schöpfer in seinem zu Hause in Escholzmatt. (Bild: Eveline Beerkircher, 6. Februar 2020)

Adrian Venetz

Abschalten konnte er nie. «Ich war an 24 Stunden pro Tag und an sieben Tagen pro Woche Hausarzt», sagt Josef Schöpfer. Was man heute neudeutsch «Work-Life-Balance» nennt, kennt der 68-Jährige höchstens vom Hörensagen. Sein halbes Leben lang, über drei Jahrzehnte, praktizierte Jospeh Schöpfer in Escholzmatt. Ein Hausarzt alter Schule. «Und auch ein verhinderter Bauer», sagt er und grinst. Wäre er der älteste Sohn auf dem elterlichen Hof im Entlebuch gewesen, hätte er ihn übernommen. «Ich wäre kein schlechter Bauer geworden.»

Aber da dieses Privileg – indiskutabel und streng nach Tradition – dem Ältesten zufiel, musste sich der junge Josef Schöpfer für einen anderen Weg entscheiden. Er studierte Medizin. Vor 32 Jahren zog er mit seiner Frau nach Escholzmatt und baute gemeinsam mit ihr eine eigene Praxis auf.

Zuhören wichtiger als der Rezeptblock

Bücher könnte Josef Schöpfer heute füllen mit all den Geschichten, die er zu erzählen hat nach über drei Jahrzehnten als Hausarzt. Lustige und tragische. Hausarzt sein war nicht sein Beruf, sondern sein Leben. Und wenn er beispielsweise erzählt, wie er – schon viele Jahre sind es her – gerufen wurde, nachdem sich ein Landwirt mit einem Kopfschuss das Leben genommen hatte; wenn er schildert, wie dort ein 4-jähriger Bub verloren neben dem Toten stand und nicht recht zu begreifen schien, was geschehen war – da schiessen Josef Schöpfer die Tränen in die Augen, beide Hände ballt er zu Fäusten, ringt um Fassung:

«Solche Erlebnisse lassen mich bis heute nicht los, verstehen Sie?»

Fast entschuldigend, dass ein so gestandener Arzt noch emotionale Nähe zu Patienten und Verstorbenen empfindet. Ein Arzt, der auch mal fragte, ob daheim alles in Ordnung ist, wenn er spürte, dass eine Zentnerlast auf der Seele des Patienten liegt. Einer, der weiss, dass geduldiges Zuhören wertvoller sein kann als der Griff zum Rezeptblock.

Initiative ergriffen für ein Ärztezentrum

Der Hausarzt als Einzelkämpfer auf dem Land ist ein Auslaufmodell – solche Aussagen sind längst nicht mehr neu. Dass die Zukunft neue Modelle der medizinischen Grundversorgung hervorbringen muss, dass der moderne Hausarzt kein «Langzeitbetreuer» mehr ist, der oft drei Generationen einer Familie in seiner Praxis empfängt, dies erkannte Josef Schöpfer schon vor vielen Jahren. «Früher waren in Escholzmatt und Marbach vier Hausärzte tätig», erzählt er. «Als ein Hausarzt verstarb und ein weiterer schwer erkrankte, waren wir noch zu zweit – und das war definitiv zu wenig.»

Und so ergriff er die Initiative, ein Ärztezentrum für die Region aufzubauen. Mit Erfolg: Seit sechseinhalb Jahren steht im Dorf ein Neubau mit dem Xundheitszentrum, einem von mehreren in der Schweiz, die von der Ärztekasse betrieben werden. «Du, Josef, sind meine Blutzuckerwerte von gestern in Ordnung?» Solche Sätze auf dem Weg zur Bäckerei kriegt man als Hausarzt weniger oft zu hören, wenn man in einer Gruppenpraxis arbeitet.

Kürzlich schrieb die Gemeinde Escholzmatt-Marbach in einer Mitteilung, dass sie Josef Schöpfer «sehr grosse Verdienste zu verdanken» habe, besonders was seine Initiative für das Gesundheitszentrum angehe. Doch Schöpfer würde lügen, wenn er behauptete, dass alles so kam, wie er es sich gewünscht hatte. Es ist kein Geheimnis, dass auch Gemeinschaftspraxen Mühe haben, Allgemeinmediziner aufs Land zu holen. Beim Xundheitszentrum Escholzmatt-Marbach ist das nicht anders.

Auch wenn Josef Schöpfer Verständnis dafür hat, dass das Entlebuch nicht auf Platz eins steht, wenn junge Ärzte ihre Zukunft planen, blickt er dennoch etwas nostalgisch auf die Zeiten zurück, in denen der Hausarzt auch nachts um 2 Uhr ans Telefon ging und sich auf den Weg machte zu einem Patienten. Oder wenn einer anrief und klagte, er habe Halsweh, er komme im Verlauf des Morgens vorbei, sobald die Kühe gemolken seien. Lachend erinnert sich der 68-Jährige auch an die ersten Monate in seiner Praxis. «Das Wartezimmer zum Beispiel war viel zu klein. Dass ein Mädchen, das sich den Arm gebrochen hat, mit der ganzen Familie samt Grossmutter in der Praxis auftaucht – daran hatte ich schlicht nicht gedacht.» Doch nostalgische Schönfärberei mag er nicht betreiben. Auch während seiner Zeit als Hausarzt in der eigenen Praxis hatte er schlaflose Nächte, überlegte er in dunklen Stunden gar, den Bettel hinzuschmeissen und wegzuziehen.

Noch nicht ganz im Ruhestand angekommen

Tempi passati. Mehrmals im Gespräch mit unserer Zeitung beginnt Josef Schöpfer Sätze wie: «Wenn ein Patient zu mir kommt...» – und dann schmunzelt er, weil er selbst merkt, dass das Präsens nun zur Vergangenheit gehört, und er korrigiert sich, «gekommen ist».

Abschalten konnte er nie, abschalten kann er noch immer nicht ganz. Einer, der sein ganzes Berufsleben lang keinen Feierabend kannte, gewöhnt sich nicht von heute auf morgen, für den Rest des Lebens Feierabend zu machen. «Komisch» sei es, dieses Gefühl, pensioniert zu sein. Und doch: Mehr Zeit mit dem Grosskind verbringen, mit seinen Pferden in der Natur unterwegs sein, Literatur geniessen – darauf freut er sich. Er sagt:

«Mein Geist ist noch nicht ganz im Ruhestand angekommen.»

«Aber das kommt schon noch.»

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