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Luzern

Einst Notstube, heute Ort der Orientierung – das Kinderheim Hubelmatt in Luzern wird 100-jährig

Das private Kinderheim Hubelmatt wird 100-jährig. Zwei Historiker haben seine Geschichte erforscht – und auch mit ehemaligen Heimkindern gesprochen.
Kinder und Personal im Kreis auf der Hubelmatt, 1930er Jahre. Bis 1986 betreuten ausschliesslich Frauen die Kinder. (Staatsarchiv des Kantons Luzern)

Hugo Bischof

Es begann im Sommer 1920 in einer Dreizimmer-Wohnung im zweiten Stock des ehemaligen Bürgerspitals Luzern an der Obergrundstrasse. Dort, nahe dem Stadthaus und der Polizeihauptwache, richtete der gemeinnützige Frauenverein eine «Kinderstube» ein, ausgestattet mit Occasionsmöbeln. «Es fehlte überall am Nötigsten», ist in einem Protokoll nachzulesen: «Und als die ersten fünf Pensionäre, zum Teil in Backpapier eingewickelte Säuglinge, anlangten, mussten schleunigst Wäsche und Kleider beschafft werden.»

1928 erfolgte der Umzug an den heutigen Standort Hubelmatt, in ein altes, der Stadt gehörendes Haus auf einem Hügelsporn mit Blick auf Allmend und Pilatus. Dort entwickelte sich die «Kinder-Notstube» zur heutigen fortschrittlichen Aufenthalts- und Ausbildungsstätte für Kinder und Jugendliche in schwierigen familiären Lebenssituationen. Zum 100-Jahr-Jubiläum haben die beiden Historiker Giulia Schiess und Jürg Stadelmann vom Luzerner Büro für Geschichte im Auftrag der Stiftung Kinderheim Hubelmatt dessen Geschichte erforscht. Sie sichteten unzählige Protokolle und Dokumente, sprachen mit vielen beteiligten Personen und führten auch Interviews mit ehemaligen Heimkindern; einige Zitate daraus sind hier abgedruckt.

Eltern mussten «brav und sittsam» sein

Die gemeinnützigen Frauen sammelten in Luzern schon vor 1900 Erfahrungen mit Kinderkrippen in der Neustadt (später Senti) und in der Weggismatt/Maihof. Die meisten betreuten Kinder stammten aus Arbeiterfamilien. Die Mütter waren meist Putzfrauen, Glätterinnen, Näherinnen, Fabrikarbeiterinnen, Verkäuferinnen, Wäscherinnen. Dass sie ihre Kinder in den Kripppen abgeben durfte, war nicht unumstritten. So werde der «Müssiggang» der Eltern unterstützt, monierten Kritiker. Das Gegenteil sei der Fall, konterten die Initiantinnen. Die Krippen ermöglichten es den Frauen, «ruhig und unbesorgt ihrem Tagwerk obzuliegen, während die Kinder in sicherer Obhut und guter Pflege sind».

Die bürgerlich orientierten gemeinnützigen Frauen leisteten mit ihren Krippen wertvolle Hilfe, stellen Schiess und Stadelmann fest. Dabei orientierten sie sich aber an einem in jener Zeit üblichen Rollenbild, das heute veraltet wirkt: «Die Frauen waren für die Betreuung der Kinder zuständig, und nur wenn sie ‹brav und arbeitsam› waren, durften sie ihre Kinder in der Krippe abgeben.»

50 Rappen bis 1.50 Franken betrug das Pflegegeld für einen Tag in der Kinderstube. Das entsprach dem durchschnittlichen Stundenverdienst eines Arbeiters von damals. Luzerns Stadtrat erliess dem Frauenverein die Kosten für Licht, Gas, Brennmaterial und Miete. Viele verwitwete und alleinstehende Mütter, die einer Arbeit nachgehen mussten, nutzten das Angebot. Behördliche Einweisungen betrafen meist Kinder geschiedener Eltern. Ehescheidungen beurteilte der Gemeinnützige Frauenverein kritisch: «In leichtfertiger Weise wird oft geheiratet, die Einrichtung verschafft man sich auf Abzahlung, bald vergrössert sich die Familie, der Verdienst reicht nicht aus, Frau Sorge zieht ein, es entsteht Streit und Zank, Ehescheidungen oder sonstiges Auseinandergehen sind die Folgen.»

Auch unterernährte und misshandelte Kinder wurden in der Kinderstube abgeklärt. Bei Gefängnisstrafen der Eltern oder infolge «lasterhaften Lebenswandels wie Trunksucht etc.» erfolgte die behördliche Versorgung. Bei Kindern, die über längere Zeit in der Kinderstube betreut wurden, versuchte man auf die «sittliche Erziehung» einzuwirken. Im Frühling besuchte der Osterhase die Kinderstube, und im Dezember organisierte die protestantische Töchtervereinigung den St. Nikolaus Tag für alle «nicht mit allzu schweren Sünden belasteten Kinder».

Ein Heimkind (männlich, Jahrgang 1967. Lebte zirka 1967 bis 1988 im Kinderheim Hubelmatt) erzählt:

«Ich habe nie wahnsinnig fest darunter gelitten, dass ich im Heim aufgewachsen bin [...] und später sogar das Bewusstsein entwickelt, dass es eigentlich das Beste war, was mir passieren konnte. [...] Wenn ich nicht im Heim aufgewachsen wäre, wäre ich heute wohl tot, auf der Gasse, oder sonst irgendwo abhängig [...].»

Zur Finanzierung auf Spenden angewiesen

Als der Platz an der Obergrundstrasse zu klein wurde, erfolgte der Umzug auf die Hubelmatt. Drei Viertel der Kosten für die Sanierung des dortigen Gebäudes zahlte die Stadt. Das Haus bot Platz für 22 Kinder. Zur Finanzierung war man auf Spenden angewiesen. Es wurden auch Vorträge und Konzerte veranstaltet. Die Stadt erliess die Miete und zahlte zusätzlich die Nebenkosten. Ab 1940, nach einigen baulichen Anpassungen, bot das Kinderheim Hubelmatt Platz für 35 Kinder. Auf einem Dach wurde eine Terrasse für Sonnenbäder und Liegekuren für «schwächliche Kinder» eingerichtet.

Der Umgang mit den Eltern war für die Heimleitung und die Verantwortlichen des Frauenvereins nicht immer einfach. «Der Verkehr mit Leuten, die oft mit oder ohne eigene Schuld moralisch tief gesunken sind, ist in der Regel ausserordentlich unangenehm, und zwar hauptsächlich mit solchen, denen Kinder von der Behörde weggenommen wurden», schrieb die Heimleitung 1940. «Diese glauben dann, sie können ihre Verärgerung über uns ergehen lassen. Durch falsche Vorspielungen, freches Auftreten und Schimpfen suchen sie sich ihren Verpflichtungen zu entziehen.» Einige Eltern würden zudem an Besuchstagen die Kinder mit Süssigkeiten «überfüttern» und dadurch «gesundheitliche Störungen verursachen».

Ein Heimkind (männlich, Jahrgang 1967. Lebte von zirka 1977 bis 1983 im Kinderheim Hubelmatt) erzählt:

«Ich habe die Zeit im Kinderheim Hubelmatt lange verdrängt. [...] Immer wenn ich darüber sprach, jemand Mitgefühl hatte, ‹oh, du armer Bub›. Das wollte ich nicht. [...] in den letzten 10 Jahren wurde ich etwas feinfühliger und kann deshalb vielleicht auch darüber sprechen. [...] Es ist Teil von meinem Rucksack.»

Etwa 70 Prozent der Kinder wurden dem Kinderheim Hubelmatt von der Vormundschaft, der Stiftung Pro Juventute oder den Gemeinden überwiesen. In 30 Prozent der Fälle waren es die Eltern selber, die sich wegen Wohnungsnot, Spitalaufenthalten oder ungenügenden Einkommens gezwungen sahen, ihre Kinder abzugeben. Die Mehrheit der im Kinderheim Aufgenommenen blieb nur vorübergehend dort. Einige kehrten zu den Eltern zurück, die anderen wurden in einem anderen Heim untergebracht. Die heikle Frage, ob einige Kinder verdingt wurden, also als billige Arbeitskräfte etwa auf Bauernhöfen missbraucht wurden, können die Historiker nicht beantworten. Sie hätten dazu in den Quellen keine Hinweise gefunden.

1947 war ein schwieriges Jahr für die Luzerner Heimlandschaft. Das Heim Sonnenberg wurde wegen des «Leidens seiner Zöglinge» geschlossen, der Direktor vom Gericht verurteilt. Zwei Jahre später kam das Kinderheim Rathausen unter Beschuss – wegen eines zu strengen Strafsystems.

«Allerlei Dummheiten» und «unbeschreibliche Ordnung»

Auch das Kinderheim Hubelmatt blieb von Kritik nicht verschont. Die beiden Historiker zitieren aus einem Brief, in dem sich eine Praktikantin beim Gemeinnützigen Frauenverein über die aus ihrer Sicht unhaltbaren Zustände beklagte. «Die Disziplin der Kinder lässt sehr zu wünschen übrig», heisst es darin etwa: «Sie werden nicht richtig beschäftigt, langweilen sich und stellen allerlei Dummheiten an.»

Ein Heimkind (männlich, Jahrgang 1993. Lebte von 2004 bis 2012 im Kinderheim Hubelmatt) erzählt:

«Am Anfang versuchten wir die Grenzen zu testen. Wenn man beim Mittag- oder Nachtessen sich nicht benahm, musste man aufs eigene Zimmer essen gehen. [...] Irgendwann bemerkst du, dass alleine im Zimmer essen und die Wand anstarren doof ist. [...] Ich habe keine Gewalt erlebt. [...] Sie hatten auch ein System mit gelben und roten Karten, wie beim Fussball. Gelb war die Verwarnung und die rote Karte hiess: ‹Teller nehmen und ab ins Zimmer›.»

Im Brief der Praktikantin hiess es weiter: Die Ordnung in den Zimmern der Angestellten, ausgenommen des Zimmermädchens, sei «unbeschreiblich». Die Lebensmittelvorräte würden schlecht überwacht: «Viel geht zu Grunde, so besonders auch bei den Kartoffeln. Ganz schlimm ist die Mäuseplage. Diese springen über die Betten usw., ohne dass dies die Leiterin veranlasst hätte, durch Gift oder andere Massnahmen für Abhilfe zu sorgen.»

Personalknappheit und Geldnot waren Dauerthemen in der Geschichte des Kinderheims, bis weit in die 1970er Jahre. Ab 1981 übernahm eine gemeinnützige Stiftung die Führung des Kinderheims von der Gemeinnützigen Frauengemeinschaft. Seither hat sich das Hubelmatt sukzessive zum heutigen Internatsbetrieb gewandelt. Während der Woche leben die Kinder und Jugendlichen in der Wohngruppe und besuchen die städtischen Schulen, übers Wochenende gehen sie nach Hause oder in eine Pflegefamilie.

Ein Heimkind (weiblich, Jahrgang 1996. Lebte von 2009 bis 2016 im Kinderheim Hubelmatt) erzählt:

«Die Struktur hat mich geprägt. [...] Zum Beispiel auch die Ansprüche, wie man eine Küche putzen muss. [...] Da merkt man, dass ich in einer Institution war mit gewissen Regeln. Ich putze im Detail. Das merkt man bei mir zu Hause auch. [...] Mein Freund sagt ‹heute übertreiben wir nicht [mit dem Putzen]›.»

Der Compass Hubelmatt, wie die Institution seit Anfang 2020 heisst, soll nicht mehr wie früher ein rund um die Uhr funktionierender Betreuungs-und familiärer Ersatzort sein. Er soll vielmehr Angebote und Dienste für Kinder und Jugendliche offerieren, denen es unter der Woche aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, bei der eigenen Familie zu leben.

Auf diesen Websites gibt es Informationen zur Geschichte des Kinderheims Hubelmatt:
www.compass-hubelmatt.ch
www.geschichte-luzern.ch
Zu sehen sind auch Interviews mit ehemaligen Heimkindern.

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