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Kolumne «Ich meinti»

Kleinklassen? Lieber kleine Klassen!

Carmen Kiser aus Sarnen äussert sich in ihrer Kolumne über integrative Schulklassen und ihre eigenen Erfahrungen als ehemalige Lehrerin. 

Ist die integrative Schule gescheitert? Seit 2008 sind Schulen in der Schweiz verpflichtet, möglichst alle in Regelklassen zu integrieren. Nun sind die «Lehrpersonen am Ende», titelt SRF News. In mehreren Kantonen gibt es Vorstösse, die Kleinklassen wieder einführen möchten – um Ruhe in die Klassen zu bringen und dem Lehrermangel entgegenzuwirken, denn man vermutet einen Zusammenhang zwischen integrativer Schule und der Unlust auf den Lehrberuf.

Carmen Kiser.
Bild: Bild: PD

Auch ich war Lehrperson. Direkt nach der PH übernahm ich eine Kleinklasse am Zürcher Stadtrand. Eine Sonderklasse B, gemäss Schulreglement eine Klasse für «Schüler mit ungenügender intellektueller Leistungsfähigkeit». In Realität aber ein Sammelbecken für alle, die Unruhe in die Regelklassen brachten.

In meiner Klasse waren 10 bis 12 Schülerinnen und Schüler. Minus eins an dem Morgen, als ein Mädchen mit seiner Mama im Schulzimmer stand, alles zusammenpackte und mir mitteilte, dass sie noch heute für immer ins Heimatland zurückreisen. Ohne Vorankündigung. Plus eins dann ein paar Wochen später, als das Mädchen wieder vor der Tür stand, mit einem Strahlen im Gesicht: sie sei jetzt wieder da, wo sie sich hinsetzen könne.

Schule Aarwangen führt ab nächstem Schuljahr ein neues Schulmodell mit Integration der Kleinklassen ein. Klasse 5a Frau Massia Manz Schulklasse, Schulsituation.
© Oliver Menge Pressefotograf BR erschienen 1.-18.6.2008



Bild: Oliver Menge / D3

Jedes meiner Schulkinder hatte sein individuelles Lernprogramm. Eigentlich waren sie Viert- bis Sechstklässler. Während sich einer aber noch mit dem Zehnerübergang abmühte, begann die nächste mit dem Matheprogramm der Oberstufe. Von wegen «ungenügende intellektuelle Leistungsfähigkeit».

Individuell waren auch die Elterngespräche. Nach kurzer Zeit wusste ich, bei wem ich die Eltern lieber nicht anrufe, wenn irgendetwas vorgefallen war, da das Kind am nächsten Tag mit blauen Flecken kommen würde. Ich wusste, wer nur spätabends Zeit hat für ein Gespräch, da beide Elternteile mehrere Jobs jonglierten, und bei wem die grossen Brüder, beeindruckende Gestalten im Multipack, kommen würden, und bei wem ich einen männlichen Kollegen, auch wenn es der Hauswart war, dazuholen musste, um überhaupt angehört zu werden.

Das klingt anstrengend? War es auch. Obwohl ich die Arbeit mit den Kindern liebte, blieb ich nur zwei Jahre an der Schule. Zum Teil, weil ich schon von Anfang an andere berufliche Pläne hatte, zum Teil aber auch, weil mir der Job ungesund viel abverlangte.

Inzwischen habe ich eigene Kinder, die mehr oder weniger leicht durchs Schulsystem wandern. Und ich meinti: Das Durchschnittskind, für das die Regelklassen gemacht sind, gibt es nicht. Jedes Kind hat seine eigene Farbe und Form und ein Recht darauf, da abgeholt zu werden, wo es steht. Dafür braucht es kleine Klassen, nicht Kleinklassen. Es braucht Ressourcen für Lehrpersonen, eine umfassende Ausbildung und Anerkennung, finanzielle und gesellschaftliche, für diese emotional und kognitiv unglaublich anspruchsvolle Arbeit, die sie leisten. Statt einen Schritt zurück, sollte die Schule einen vorwärts gehen, Richtung «Schule für wirklich alle» – die Kinder, die Lehrpersonen und die Eltern. Dann wäre vielleicht auch der Lehrermangel Geschichte.

Carmen Kiser, Museumskuratorin aus Sarnen, äussert sich abwechselnd mit anderen Autoren zu einem selbst gewählten Thema.

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