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Zug

Kinder- und Jugendpsychologie ist am Anschlag: «Ein halbes Jahr Wartezeit ist eine Zumutung»

Die Zuger Kinder- und Jugendpsychologie muss immer mehr neue Klienten abweisen – und das nicht erst seit der Pandemie. Fünf Psychotherapeutinnen fordern eine kantonale Anlaufstelle, mittels welcher die Bevölkerung effektiver mit dem psychologischen Angebot versorgt werden könnte. Der Kanton zeigt sich allerdings nicht zuständig.
Chantal Roulet Huber (48) ist Fachpsychologin Kinder und Jugendliche SBAP. Sie stammt aus dem Kanton Bern und ist seit 15 Jahren im Kanton Zug tätig.
Karlijn Werquin (58) ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie stammt aus Belgien und ist seit 12 Jahren im Kanton Zug tätig.
Die Psychologinnen Chantal Roulet Huber und Karlijn Werquin an der Seepromenade.
(Bild: Maria Schmid (Zug, 23. Februar 2021))
In der Praxis von Karlijn Werquin finden sich viele Spielsachen, die in der Therapie mit Kindern zum Zuge kommen. (Bild: Maria Schmid (Zug, 23. Februar 2021))

Linda Leuenberger

Linda Leuenberger

Linda Leuenberger

Linda Leuenberger

Mit der Coronapandemie verschlechtert sich die psychische Gesundheit der Bevölkerung. Das ist mittlerweile bekannt. Ebenso, dass Jugendliche und junge Erwachsene besonders leiden – und dass ihnen mittel- bis langfristige Folgen drohen. Die wachsende Not unter den Jungen kriegen auch Psychotherapeutinnen und -therapeuten im Kanton Zug zu spüren.

Karlijn Werquin und Chantal Roulet Huber sind eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutinnen und führen beide eine Einzelpraxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie im Kanton Zug. Sie sagen: «Im Vergleich zum psychotherapeutischen Angebot für Erwachsene ist das Angebot für Kinder und Jugendliche spärlich. Wir sind zu wenige.» Die derzeit je vier bis acht Neuanmeldungen, welche wöchentlich in den Praxen von Werquin und Roulet Huber reinkommen, müssen alle abgewiesen werden:

«Für neue Klienten besteht eine Wartezeit von bis zu sechs Monaten. Das ist eine Zumutung für die Betroffenen.»

Das sei vor allem ein Problem, da Eltern oft erst dann anrufen würden, wenn sie nicht mehr weiterwüssten.

Karlijn Werquin sagt: «Wenn wir Kinder und Jugendliche abweisen müssen, bedeutet das eine grosse Enttäuschung für sie und ihre Familien. Sie fühlen sich alleine und hilflos. Über die Wartemonate hinweg können sich Verhaltensmuster chronifizieren oder das Problem wird so akut, dass es eine Notfallsituation gibt.» Eine Perspektive sei in solchen Fällen besonders wichtig, ergänzt Chantal Roulet Huber. «Wenn nach einem ersten Anruf ein Termin innerhalb von vier Wochen vereinbart werden kann, bringt das schon Erleichterung. Aber ein halbes Jahr ist zu viel.»

Schon vor Corona am Anschlag

Das Problem der mangelnden Kapazitäten bestehe nicht erst seit der Coronakrise, betonen Roulet Huber und Werquin. Mit der Pandemie habe es sich aber merklich verschärft: Während vor zwei Jahren wöchentlich etwa drei Neuanmeldungen abgewiesen werden mussten, seien es heute teilweise drei pro Tag.

Die beiden Psychologinnen engagieren sich gemeinsam mit ihren Fachkolleginnen Ines Jenni, Elke Romano und Ursula Meierhans in einem Fachzirkel. Sie tauschen sich aus und werden, wenn es sein muss, auch gesundheitspolitisch aktiv. Vor anderthalb Jahren haben sie den Kanton Zug darauf hingewiesen, dass sie mit ihren Kapazitäten am Anschlag sind. Seither habe sich an ihrer Situation aber nichts geändert.

Warum es im Kanton Zug zu wenige psychotherapeutische Angebote für Kinder und Jugendliche gibt, können Roulet Huber und Werquin nur mutmassen. Ein zentraler Punkt sei aber, dass die Ressourcen nicht effektiv genutzt würden. Es findet keine fachlich geleitete Triage statt, wie das etwa in der Opferhilfe der Fall sei.

Kantonale Anlaufstelle für eine effektive Triage

«Es müsste eine professionelle und niederschwellige Anlaufstelle geben, die Auskünfte erteilen, erste Einschätzungen vornehmen und die Patientinnen und Patienten an entsprechende Fachstellen überweisen könnte», sagt Chantal Roulet Huber. In manchen Fällen bräuchten die betroffenen Personen gar nicht unbedingt eine Psychotherapie, ergänzt Karlijn Werquin. Umso wichtiger sei es, dass sie ohne Umwege und innert nützlicher Frist ein erstes Orientierungsgespräch führen und über hilfreiche Beratungsangebote aufgeklärt werden könnten.

Hemmschwelle vertiefen und präventiv arbeiten

Psychologisches Wissen müsse zugänglicher und niederschwelliger gemacht werden, sagen Roulet Huber und Werquin. Fehlende und verpasste Hilfe für psychische Gesundheit komme die Gesamtgesellschaft teuer zu stehen. Gemäss einer Studie, die von der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen in Auftrag gegeben wurde, könnten mit einem erleichterten Zugang zu Psychotherapie schweizweit bis zu 730 Millionen Franken pro Jahr gespart werden. Investitionen in die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung lohnen sich gemäss der Studie also auch aus rein ökonomischer Perspektive. Karlijn Werquin betont, dass sich solche Investitionen gerade im Bereich der Kinder- und Jugendpsychologie bezahlt machen:

«Kinder und Jugendliche leisten ganz viel Präventionsarbeit. Wenn psychologische Hilfe bei ihnen wirkt, geben sie ihr Wissen weiter.»

Könne man Kinder erreichen, verbreite sich das psychologische Wissen exponentiell in der Gesellschaft. Die beiden Fachfrauen sind sich einig, dass gerade bei Kindern und Jugendlichen der Zugang zu Psychotherapie unbedingt gewährleistet sein muss.

Hinweis: Auf der Webseite der assoziierten Zuger Psychotherapeuten finden sich Kontaktdaten von Psychologinnen und Psychologen im Kanton.

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