Roman Kühne
Der Klassikbetrieb gilt vielen als konservativ. So murmelte einmal in einem Konzert des Lucerne Festival Orchestra ein ältere Sitznachbar etwas von «unglaublich, da drüben ist ein Junger in einem kurzärmeligen Hemd» – um zehn Minuten später einzuschlafen. Und noch vor vier Jahren rechnete die NZZ am Sonntag das Mitbringen von Kindern unter «Die 13 Todsünden im Konzertsaal».
All dies hilft natürlich nicht gerade, die Klassik den Heranwachsenden schmackhaft zu machen. Aus diesem Grunde stellte das Lucerne Festival dem eigentlichen Festival mit «Music for future» erstmals eine Art «Jugendwoche» voran. Zeit, ein Fazit zu ziehen.
Kinder können gratis ins KKL
Zuerst zum Positiven: Die Kleiderordnung ist heute lockerer. Keine Krawatte, kurzärmelige Hemden, vereinzelt gar kurze Hosen sind immer öfters anzutreffen. Auch Kinder sind heute akzeptiert. Man hat gemerkt, dass die meisten durchaus einigermassen still einem Konzert folgen können.
Sehr positiv ist: Die Konzerte mit jungen Musikern wurden zu einem attraktiven Preis zwischen 10 und 50 Franken verkauft, auch für die Erwachsenen. Zwei Kinder können jeweils gratis an das Konzert. Dies gilt übrigens auch für weitere ausgewählte Konzerte, zu finden unter www.lucernefestival.ch und dem Stichwort «luege, lose, erläbe».
Gleichzeitig sind die Konzerte mit jungen Musikern von hoher, dem Festival würdiger Qualität. Das Russian National Youth Symphony Orchestra, ein junges Profi-Ensemble, lieferte eine Top-Leistung am Dienstag (Ausgabe vom 11. August). Aber auch das Schweizer Jugend-Sinfonieorchester spielte am Mittwoch im KKL ein Konzert, das manch anderen Auftritt an gleicher Stätte in den Schatten stellte. Sicher, in der Stückauswahl bewegt man sich mit Mozart und der ersten Sinfonie von Beethoven klanglich und technisch auf der sicheren Seite. Aber es ist grossartig, wie die jungen Musiker im Klavierkonzert in C-Dur (KV 467) von Mozart den Solisten Oliver Schnyder begleiten. Klar und schlank im Klang, wie von selbst entwickelt sich die Musikalität. Das solistische Bläserspiel im Allegro oder die zupfenden Streicher im Andante bilden die duftende Stimmung, auf welcher sich der Schweizer Pianist entfalten kann.
Schnyder spielt mit denselben Qualitäten, die schon seine Beethoven-Einspielungen mit dem Luzerner Sinfonieorchester charakterisieren. Innerlich, tastend und sensibel. Nie hart entwickelt er seine Nuancen aus einem Fluss. Intim, ja schön in der besten Bedeutung des Wortes. Von hervorragender Qualität ist auch die 1. Sinfonie von Beethoven. Das ganze Konzert stehend, ziehen die jungen Musikerinnen und Musiker unter der Leitung von Kai Bumann eine lebendige Interpretationslinie vom Anfang bis zum Schluss. Verständlich und einheitlich in der Phrasierung, spannend im Kleinen, schlank und ausgewogen im Klang. Dies ist umso erstaunlicher, da sich das Schweizer Jugend-Sinfonieorchester für dieses Programm nur während fünf Tagen traf.
Ein Symposium zum Gähnen
Ein Beispiel, wie man Jugendliche sicher nicht in den Konzertsaal bringt, liefert dagegen die dem Konzert vorgeschaltete Diskussion zur Frage «Wie nachhaltig ist Musik?» Nun, einerseits könnte man den CO2-Ausstoss senken, indem man die grossen Festivals ersatzlos streicht, wie der Künstler Georg Steinmann – neben Lutz Jäncke der Hauptredner am Podium – richtigerweise feststellte. Aber wenn man Junge erreichen möchte, gehören auch bei einem Podium Junge auf die Bühne und sind weitschweifig-professorale Referate eine verpasste Chance.
Von 9 bis 21 Jahren ist alles da
Da ist es wohltuend, dass am Donnerstag Mittag wieder jungen Kräfte am Drücker sind. In der Lukaskirche spielen die Preisträger des Schweizerischen Jugendmusikwettbewerbes ihr Konzert – ein neues, vielversprechendes Element im Konzept dieser Jugendwoche. Von 9 bis 21 Jahren, von Gitarre über Tuba, Orgel, Eufonium, Klarinette bis hin zu den Streichinstrumenten ist alles vertreten. Auch musikalisch reicht das Spektrum von der Klassik bis in die Moderne. Das Niveau ist hoch. Stan Theodas spielt zum Beispiel Messiaens «Dieu parmi nous» aus «La Nativité du Seigneur» mit fast diabolischer Kraft und Farbmacht. Oder der exzellente Auftritt der Oboistin Vera Flurina Gassmann mit Heinz Holligers schwierigen Fünf kleine Stücke für Oboe solo, das sie mit grosser Musikalität gestaltete.
Zum Publikum sprechen steht andernorts im Vertrag
Die Qualität ist also da. Etwas mehr Jugendliche und Kinder sah man auch an den Konzerten. Dennoch wirkt alles etwas gewöhnlich, «klassisch» halt. In den USA ist zum Beispiel in Verträgen festgeschrieben, dass der Künstler zum Publikum sprechen muss. Für die Geigerin Patricia Kopatchinskaja war das einst eine Entdeckung: Wenn man spreche, bekomme man einen ganz natürlichen Zugang zu den Zuhörern – die Musik selber sei danach wie die Fortsetzung dieser Kommunikation.
Ansätze zu einer neuartigen Präsentation von Musik gäbe es also durchaus. Und solche nutzte das Festival in den letzten Jahren auch mit Music-Camps mit Jugendlichen aus der Schweiz und dem Ausland, die wegen Corona dieses Jahr nicht stattfinden konnte. Künftigen «Music for Future»-Vorprogrammen bleibt zu wünschen, dass die da erprobte Spontaneität in klassische Formate überspringt.
Hinweis Lucerne Festival wird mit dem Konzert des Lucerne Festival Orchestra unter Riccardo Chailly heute, 18.30, offiziell eröffnet. Das Konzert wird aufs Inseli live übertragen und ab 20.00 auf Radio SRF 2 und ab 22.25 auf SRF 1 ausgestrahlt.