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Uri

Jeanne Hansen kam von Holland ins Hochgebirge des Kantons Uri

Seit 24 Jahren arbeitet Jeanne Hansen in den Bereichen Physiotherapie und Psychomotorik in der Therapiestelle der Stiftung Papilio und erlebte die Entwicklung der Institution von ihren Anfängen bis heute.
Jeanne Hansen hat in den letzten 20 Jahren im Urnerland nicht nur neue Freunde, sondern eine neue Heimat gefunden. (Bild: Urs Hanhart (Altdorf, 22. April 2020))

Claudia Naujoks

Nur eine Woche hat Jeanne Hansen Zeit für ihren Entscheid, in den Kanton Uri zu ziehen oder nicht, denn sie lebt nicht gerade um die Ecke. Mit ihrem Mann Johannes, der zu diesem Zeitpunkt sein Studium zum Maschinenbauingenieur beendet hatte und eine Stelle sucht, kommt sie aus dem rheinländischen Herzogenrath, einer deutschen rund 47000 Einwohner zählenden Stadt bei Aachen nahe der holländischen Grenze, in die Zentralschweiz.

Unternehmen mussten damals noch beweisen, dass sie keine Personen aus der Schweiz finden können, bevor sie Fachkräfte aus dem Ausland einstellen durften. Auf diese Weise erhält Jeanne Hansens Mann ein Stellenangebot in der Dätwyler AG. Um herauszufinden, ob sie ihren Lebensmittelpunkt in den Kanton Uri verlegen wollen, logieren sie mit ihrem erstgeborenen, drei Monate alten Sohn Niels im Gasthaus Krone in Attinghausen. Sie entscheiden sich dafür, denn obwohl der topografische Unterschied nicht grösser hätte sein können, fühlen sie sich von dem Ort angezogen.

«Der Anfang war schwierig, selbst für ein Landei wie mich»

«Am Anfang habe ich mich ziemlich einsam gefühlt», erinnert sich Jeanne Hansen. Dabei war nicht die ländliche Gegend die Ursache für ihr Unwohlsein, denn die gebürtige Niederländerin bezeichnet sich selbst als «Landei». Ein wenig mutet ihre Erzählung an wie eine von Astrid Lindgren. Hansen stammt aus dem kleinen Dorf Grubbenvorst in Limburg, der südlichsten der zwölf niederländischen Provinzen. Ihre Eltern bewirtschaften dort einen Bauernhof mit Landwirtschaft, Schweinen und Schafen. Sie verlebt eine «tolle Kindheit» als jüngstes von vier Geschwistern. Die Familie wohnt in einem alten Kloster ausserhalb des Ortes – sehr ruhig und idyllisch.

Aus dieser eigenen schönen Kindheitserfahrung heraus erwacht schon früh in ihr der Wunsch, einmal mit Kindern zu arbeiten. Zunächst war da die Idee, Lehrerin zu werden, die ihr Vater allerdings vereitelt, weil er befürchtet, dass sie nach der Ausbildung keinen Arbeitsplatz bekommen würde. Noch heute ist sie ihm dafür dankbar, denn letztendlich hat sie dieser Eingriff in ihre Entscheidung zu ihrem Traumberuf gebracht. Sie informiert sich, welche Berufe mit Kindern es noch gibt, und entscheidet sich für das Studium der Physiotherapie, das in den Niederlanden im Bereich Kinder damals auch das Zusatzmodul Psychomotorik enthielt.

Mit der Berufstätigkeit kamen erste Kontakte zu Einheimischen

Nein, nicht die ländliche Gegend oder die hohen Berge waren die Ursache für ihre anfängliche Einsamkeit im Urnerland, vielmehr war es ihre Situation, denn mit zwei kleinen Kindern – ein Jahr nach Niels kommt sein Bruder Arne zur Welt – war Jeanne Hansen, wie alle Mütter mit kleinen Kindern, auch mehr an Zuhause gefesselt. Da fiel es ihr schwer, in der noch fremden Um­gebung Kontakte zu knüpfen, ausser zu einigen Arbeitskollegen ihres Mannes.

Allerdings nur bis zu dem Tag, an dem ein Freund aus den Niederlanden anruft: «In einer Fachzeitschrift für Physiotherapie steht eine Anzeige, in der ein Arzt in eurem Dorf eine Physiotherapeutin sucht», sagt er. Sie erhält den Job und arbeitet dort bis zur Geburt des zweiten Sohnes. So kann sie einige erste Kontakte knüpfen, die sich jedoch wieder verlieren, nachdem sie in den Mutterschutz eintritt.

Die Stiftung Papilio wird wichtig in ihrem Leben

Oft spaziert sie mit dem Kinderwagen am Gelände der heutigen Stiftung Papilio vorbei und sagt zu ihrem Mann:

«Da will ich arbeiten, da bewerbe ich mich mal.»

Der damalige Therapiestellenleiter Hugo Bossert stellt sie ein als Unterstützung für die damalige Physiotherapeutin. So kann sie schon vier Monate nach der Geburt von Arne zu 30 Prozent zu arbeiten anfangen. Gleichzeitig stellt dies das Ende ihrer Isoliertheit dar; schnell ergeben sich Kontakte, die auch in Freundschaften münden. Mit der Mutter ihres ersten Therapiekindes beispielsweise ist die 56-Jährige noch heute befreundet.

Besonders am Herzen liegen Jeanne Hansen ihre eigene Arbeit sowie diejenige ihrer Mitarbeiter mit den Kindern in der Therapiestelle. Sie erlebt die Entstehung der Stiftung Papilio in Altdorf von Anfang an mit. Zunächst als Therapeutin im Bereich Psychomotorik, übernimmt sie 2011 die Fachleitung für diesen Bereich. Eine neue Herausforderung stellt für sie die Stelle der Bereichsleitung Therapie dar, die sie nach der Pensionierung des Vorgängers Hugo Bossert seit dem 1. April 2017 innehat.

Wichtig war ihr dabei die Möglichkeit, sich eine theoretische Grundlage für diese Tätigkeit anzueignen, und absolvierte deshalb das Zertifikat CAS Schulleitung. Die Abschlussarbeit bleibe ihr dabei besonders in Erinnerung ob der Anstrengung, die diese für eine über 50-Jäh­rige bedeutet habe, schmunzelt sie. Jetzt sei es ihr ein grosses Anliegen, sowohl die Zusammenarbeit innerhalb ihres Teams als auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit voranzubringen, sodass sie die Stelle bei ihrer Pensionierung dereinst mit Stolz und Zufriedenheit übergeben könne.

Viele kleine Gesten der Freundlichkeit

Vor allem die kleinen Gesten und Erlebnisse seien es, die das Leben miteinander so schön machten. Und das habe sie hier in Uri von Anfang an er­leben dürfen. Zum Beispiel haben Mitbewohner im Haus ihrer ersten Altdorfer Wohnung die gemeinsame Waschmaschine zu ausserordentlichen Zeiten freigeräumt, weil sie ihren höheren Bedarf mit den zwei kleinen Kindern erkannt hatten. Zur Geburt des zweiten Sohnes hat sie eine Karte von einem Mann aus dem Mehrfamilienhaus bekommen, den sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen hatte. Wenn man sich näher kennenlernt, «dann geben sie einem das letzte Hemd», resümiert sie. Dann sei man aufgenommen und gehöre dazu, man kümmere sich um einander und könne jederzeit kommen und um Hilfe bitten.

Als sie ihr zunächst gemietetes, schliesslich gekauftes Haus in Bürglen nach ihren Vorstellungen umgebaut haben, sei sie sehr beeindruckt und begeistert gewesen, wie Architekt, Bauleitung und die Handwerker der verschiedenen Gewerke zeitnah und effektiv miteinander gearbeitet haben. Sie sind da, wenn man sie braucht, und auf dem Bau wird nicht geschrien und geflucht, auch das sei ihr sofort aufgefallen.

Wie klein die Welt doch ist, hat sie erfahren, als ihr Schweizer eine Niederländerin vorstellten, deren Mutter aus dem gleichen Ort kommt wie Jeanne Hansens Mutter. Da sie vorher bereits zehn Jahre lang in Deutschland gelebt hatte, spricht sie zunächst Hochdeutsch, doch bald merkt sie, dass sie von den Kindern im Kindergartenalter und jünger in ihrem Umfeld nicht verstanden wird.

Jeanne Hansens «Sprachenknubbel»

Aber dank ihrer Begabung – sie nennt es «Sprachenknubbel» –, Fremdsprachen recht schnell zu lernen, lernt sie das Schweizerdeutsche ring. Zu einem der Kinder aus der Anfangszeit habe sie in der ersten Stunde auf Hochdeutsch gesagt: «Du kannst dich hinsetzen.» Hilfesuchend sah das Kind seine Mutter an. Die Mutter: «Chasch annähockä!» Jeanne Hansen in der nächsten Stunde zu dem Kind ebenfalls: «Chasch annähockä!» Das Kind: «Meinst du ‹hinsetzen›?» So lernten sie beide.

Oft wird Hansen ihres rheinländischen Dialekts wegen gefragt, ob sie aus Aachen oder Köln komme. Dann antwortet sie in ihrer trockenen Art: «Ich komm’ aus Holland.»

«Einbürgern lassen wollte ich mich nie»

Die Nationalität könne man eben nicht so einfach abstreifen wie einen Namen, meint Jeanne Hansen. Deshalb hat sie sich auch nie einbürgern lassen. «Ich bin nun mal keine Schweizerin», stellt sie nüchtern fest – aber: Nie habe sie es bereut, hierhergegangen zu sein. «Wenn wir bei der Rückkehr von einem Holland- oder Deutschlandbesuch bei Basel über der Grenze sind, sind wir wieder zu Hause», lächelt die Niederländerin.

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