Eine knappe Hundertschaft von ziemlich merkwürdigen und kuriosen Gestalten trieb sich am Samstag um die Mittagszeit im Bannwald oberhalb von Andermatt herum. Die Kinder, Frauen und Männer waren allesamt mit Jutesäcken bekleidet und mit einem Ziegenhorn oder einer Kuhschelle ausgerüstet.
Nicht ganz passend zur urigen Bekleidung waren die Gehörschütze in Form von teils sehr auffällig gefärbten Pamiren, welche die meisten Knirpse trugen. Aber das taten sie aus gutem Grund, wie sich schon bald zeigen sollte. Just als die Kirchuhr einmal schlug (für 13 Uhr) machte sich die Gruppe auf den stotzigen Weg ins Dorf hinunter. Auf ihrem zielgerichteten Marsch veranstalteten die komischen Figuren einen Höllenlärm. Es wurde getutet und gebimmelt, was das Zeug hielt – und das rund eine Stunde lang.
Die Suppe war für einmal nicht ganz passend
Das Spektakel führte via eine Schlaufe zweimal über Andermatts Dorfstrasse. Endpunkt des von Einheimischen und Touristen mit Begeisterung und teilweise auch mit grossem Staunen verfolgten Geschehens war der Platz vor dem Hotel Drei König und Post. Dort erhielten zum Abschluss alle Teilnehmer eine heisse Suppe spendiert. Das war beim herrschenden schon fast spätsommerlichen Wetter mit stahlblauem Himmel und Temperaturen von fast 20 Grad für einmal nicht ganz die passende Verpflegung. Mit ihren viel zu warmen Klamotten kamen die skurrilen Gesellen nämlich ganz schön ins Schwitzen.
Für Andermatter auch touristisch wertvoll
Bei den mysteriösen Gestalten handelte es sich um Kinder und Erwachsene, die sich als sogenannte «Woldmanndli» verkleidet hatten. Zu den Teilnehmern gehörte auch der in Andermatt wohnhafte Urner Landammann Roger Nager. «Dieser Anlass ist für uns Andermatter sehr wichtig», betonte er. «Ich persönlich mache schon seit Kindsbeinen immer mit voller Begeisterung mit. Seither habe ich höchstens vier- bis fünfmal gefehlt. Mit dieser alten Tradition machen wir auf die enorme Bedeutung des Bannwalds aufmerksam.» Nicht zuletzt sei diese Veranstaltung aber auch touristisch wertvoll, figuriere doch dieser Brauch seit einigen Jahren auf der Liste der lebendigen Traditionen der Unesco. «Das macht uns natürlich stolz.»
Ein alter Brauch befindet sich im Aufwind
Nager hat schon viel erlebt im Zusammenhang mit dem «Woldmanndli»-Brauch, insbesondere auch wettermässig. «Ende Oktober ist hier oben alles möglich, von fast sommerlichen Temperaturen wie heute bis hin zu Schneefall. Schön ist, dass es jeweils auch bei schlechtem Wetter nahezu gleich viele Teilnehmer hat.» Überhaupt habe dieser Brauch in den vergangenen Jahrzehnten gewaltig an Anziehungskraft gewonnen. «Als ich in der Lehre war, machten nur etwa 20 Andermatter mit. Mittlerweile sind es schon rund hundert.»
Taglöhner als eigentliche Urheber des Brauchs
Ende des 14. Jahrhunderts wurde der verbliebene Rest des Waldes oberhalb von Andermatt in Bann gelegt. Jegliche Nutzung war unter Androhung hoher Strafen untersagt. Um diesem Verbot Achtung zu verschaffen, brauchte es Leute, die den Wald vom Frühjahr bis zum Wintereinbruch pflegten und Übertretungen meldeten. Bei diesen handelte es sich meistens um Taglöhner, die von den Einheimischen «Woldmanndli» genannt wurden. Dem rauen Klima im Urserntal entsprechend trugen sie aus Jute hergestellte Arbeitskleider. Zur Verständigung benutzten sie Ziegenhörner. Heute sind längst keine «Woldmanndli» mehr im Bannwald anzutreffen. Nur einmal im Jahr lebt die Erinnerung an diese wichtigen Männer, die durch ihre Überwachungstätigkeit dafür sorgten, dass der Urschner Hauptort seinen natürlich gewachsenen Schutz behielt, wieder so richtig auf.