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Obwalden

«Ich meinti»: Orchestrierte Freizeit

«Ich meinti»-Kolumnistin Carmen Kiser hat ein neues Hobby. Eines, das sie zwar nicht produktiv oder effizient macht, und auch nicht kommunizierend. Aber es macht ihr Spass.
Carmen Kiser, Museumskuratorin aus Sarnen, äussert sich an dieser Stelle abwechselnd mit anderen Autoren zu einem selbst gewählten Thema.

Carmen Kiser

Ich habe ein neues Hobby. Eines nur für mich.

Als junge Frau bin ich viel gereist, habe Sport gemacht, im Ensemble gesungen, getanzt, geschrieben. Mit den Kindern blieb mir nur wenig Zeit zum Vertreiben. Einige Jahre habe ich mich politisch engagiert. Ich wollte etwas Sinnvolles tun, mich für eine soziale und ökologische Gesellschaft einsetzen. Mit meinen Überzeugungen stand ich allerdings weit abseits des gängigen Obwaldner Diskurses, Mehrheiten für meine Anliegen fanden sich fast nie. Es gab viel Frust auszuhalten. Mein Engagement kostete mich mehr Energie, als ich zur Verfügung hatte. Also habe ich der Politik den Rücken gekehrt, mich auf Familie und Beruf konzentriert und blieb weitgehend hobbylos.

Bis jetzt. Während andere seit dem Lockdown Bananenbrot buken, Sauerteig ansetzten und Online-Yogaklassen besuchten, habe ich wieder begonnen, Bücher zu lesen. Zum Beispiel die mitreissende Geschichte der Dirigentin Antonia Brico, die unermüdlich und gegen alle gesellschaftlichen Widerstände ihren Traum verfolgte, als weibliche Person ein Orchester zu leiten. Ihre Erlebnisse in der Musikwelt weckten meine Faszination für Streichinstrumente aus dem Tiefschlaf. In der Zeitung stolperte ich über den «Instrumentalunterricht für Erwachsene» und schrieb mich, aus einem Impuls heraus, für Geigenstunden ein.

Und nun spiele ich Geige. Jede zweite Woche treffe ich meine Lehrerin, dazwischen übe ich jeden Tag. Denn einfach ist es nicht. Meine Finger sind steif, meine Haltung verspannt, jeder Handgriff ist harte Arbeit. Trotzdem: Es macht Spass. Das Üben lehrt mich Konzentration und Hartnäckigkeit. Die Geige verlangt von mir, meiner üblichen Hektik zu entrinnen und mich ganz auf mein Spiel zu konzentrieren. Meine Erfolge sind minim, doch ich geniesse jeden davon. Mir und meinen Fähigkeiten gegenüber entwickle ich eine Haltung, die ich auch anderen entgegenzubringen versuche: Kritisch sein, aber doch grosszügig. Wohlwollend und empathisch, aber auch fordernd und konsequent. Der Geige wohlklingende Melodien entlocken kann ich zwar noch nicht, aber in meinen kühnen Träumen sehe ich mich bereits auf der Bühne stehen und Vivaldis «Herbst» spielen, während mein Publikum fasziniert lauscht.

Das Geige-Üben ist ein wunderbares Lernfeld für Resilienz und Fokus, doch das eigentlich Relevante ist: Ich habe mir erlaubt, etwas zu tun, was ICH möchte. Ohne Zweck. Ohne Nutzen für irgendjemanden anderes. Einfach, weil es Spass macht. Oder, wie die Künstlerin Jenny Odell es in ihrem Buch «Nichts tun» beschreibt: Ich habe das Nützlichsein überlebt. Während des Geige-Spielens bin ich nicht produktiv, nicht effizient, weder kommunizierend noch konsumierend. Stattdessen betreibe ich Selbstfürsorge. Ganz radikal kümmere ich mich einzig um mich. Denn nur wer gut zu sich selbst schaut, kann auch zu anderen schauen. Für ein paar Stunden pro Woche spiele neuerdings ich die erste Geige in meinem Leben. Und frage: Was tun Sie ganz allein für sich?

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