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Uri

«Ich hätte auch scheitern können»: Der Kesb-Präsident sieht seine Behörde trotz anfänglichen Schwierigkeiten auf Kurs

Jules Busslinger hat die Urner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in stürmischen Zeiten übernommen. Im Interview sagt er, welche Hebel es brauchte, um den Pendenzenberg zu bewältigen.
Jules Busslinger, Präsident der Urner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb. (Florian Arnold / Urner Zeitung)

Florian Arnold

Der 59-jährige Jules Busslinger ist Jurist und war unter anderem für das eidgenössische Militärdepartement tätig, ehe er stellvertretender Generalsekretär des eidgenössischen Finanzdepartements wurde. Später war er Gemeindeschreiber in Horgen und baute schliesslich die Datenschutzsstelle der Kantone Schwyz, Ob- und Nidwalden auf. 2019 übernahm er die Leitung der Urner Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde. Ergänzt wird die Behörde durch Gabriela Suppiger und Susu Rogger. Im Interview spricht er über die Veränderung in der Behörde seit seinem Amtsantritt.

Herr Busslinger, Chef der Kesb: Wieso tut man sich das an?Jules Busslinger: Ich mag Herausforderungen, und die Leitung der Kesb in Uri zu übernehmen, war eine grosse Herausforderung. Aber auch der Zufall spielte eine Rolle. Ich wurde angefragt, da man rasch jemanden brauchte, und ich war verfügbar. Was mich genau erwartet, wusste ich nicht.Mittlerweile wissen Sie es. Wie fällt Ihr Fazit aus?Trotz aller Turbulenzen und Schwierigkeiten macht mir die Aufgabe grosse Freude, da ich etwas bewirken kann.

Im ersten Jahr gab es schwierige Situationen und Durststrecken, und ich hätte auch scheitern können.

Aber mein Motto lautet: Lieber etwas riskieren, als ewig zu bereuen, sich nicht getraut zu haben. Jetzt sehe ich: Es hat sich gelohnt. Wir kommen vorwärts und die Rückmeldungen, die ich erhalte, sind positiv.Sie haben angefangen, als das gesamte Dreiergremium gekündigt hatte. Wie haben Sie diesen Neustart geschafft?Es brauchte den Mut, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, das heisst, den Courant normal sicherzustellen und parallel dazu die Pendenzen abzuarbeiten. Von der damaligen Vorsteherin der Gesundheits-, Sozial und Umweltdirektion habe ich viel Vertrauen und Unterstützung erhalten. So hat sie mir temporäres Aushilfspersonal zugestanden, wenn ich dieses brauchte, und sie hat meine Anliegen in den Regierungsrat getragen. Auch das war ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Und schliesslich hatte ich auch Glück: In bestimmten Momenten hat mir das Szenario eines tragischen Kindesschutzfalles grosse Sorgen bereitet. Glücklicherweise ist dieses Szenario dann nicht eingetreten.Mittlerweile ist der Pendenzenberg abgebaut. Welche Anpassungen waren dazu nötig?Das grösste Problem stellte die Abnahme von Berichten und Rechnungen dar. Das ist unser «Massengeschäft». Bisher wurde bei der Revision immer eine Vollprüfung gemacht, bei der jeder Beleg kontrolliert wurde.

Nun haben wir eine Art «Ampelsystem» eingeführt: Bei Grün genügt eine Stichprobe, bei Gelb macht man mehrere Stichproben und nur noch bei Rot eine Vollprüfung.

Des Weiteren haben wir bei der Entscheidfindung den gesetzlichen Spielraum besser ausgenützt, indem wir einfachere Entscheide konsequent in Einzelkompetenz statt im Dreiergremium gefällt haben. Und schliesslich haben wir die Dokumente selber stark gestrafft. Wo es rechtlich möglich ist, erlassen wir sogenannte «Kurzentscheide ohne Begründung». Statt sechs Seiten ist der Entscheid dann nur noch eine Seite lang.Sie sind Aargauer, wohnen in Schwyz und arbeiten in Uri. Wie kommen Sie mit dem Urner Charakter zugange?Ich arbeite sehr gerne für die Urnerinnen und Urner. Davor durfte ich die Datenschutzstelle Schwyz, Ob- und Nidwalden aufbauen und leiten. So habe ich die Kleinräumigkeit in der Innerschweiz kennen gelernt. Interessant ist, dass trotz dieser Kleinräumigkeit in jedem Kanton eine andere Mentalität herrscht. Die Urner nehme ich als sehr bodenständig und gleichzeitig auch als weltoffen wahr. Die Leute hier schauen zueinander und die Solidarität ist gross.Durch Ihre Arbeit lernen Sie Familiengeschichten kennen. Sind diese in Uri weniger dunkel als in anderen Kantonen?Für einen Vergleich mit anderen Kantonen fehlen mir die Referenzen. Aber es gibt auch in Uri Licht und Schatten. Auch hier kommen leider häusliche Gewalt und Kindesmisshandlungen vor, wo die Kesb dann einschreiten muss. Glücklicherweise bilden diese schwierigen Entscheide nur einen kleinen Teil unserer Arbeit. In den meisten Fällen sind die Leute froh, dass es eine Institution wie die Kesb gibt. Nur spricht man das nicht offen aus.In die Medien haben es vor allem missglückte Fälle geschafft. Von Machtmissbrauch war öfters die Rede.Es trifft nicht zu, dass die Kesb zu viele Kompetenzen oder zu viel Macht hätte. Die Kesb hat genau die Kompetenzen, die sie braucht, um ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen zu können. Aber es trifft zu, dass wir manchmal sehr stark in die Grundrechte der betroffenen Menschen eingreifen müssen. Wir tragen deshalb eine grosse Verantwortung. Unsere Handlungen und Entscheide haben teilweise gravierende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Ich erinnere mich, als ich das erste Mal eine Anhörung im Zusammenhang mit einer fürsorgerischen Unterbringung durchführen musste.

Da wurde mir bewusst, dass ich jetzt das erste Mal in meinem Leben darüber entscheiden musste, ob ein Mensch nach Hause gehen darf oder gegen seinen Willen in der Klinik bleiben muss.

Das hat mich damals nachdenklich gestimmt, und das tut es noch heute. Unsere Aufgabe verlangt grosse Demut und Zurückhaltung.Vor einer schwierigen Aufgabe stehen auch Menschen, die eine Meldung bei der Kesb machen. Was raten Sie bei der Gratwanderung zwischen «Verpetzen» und «Verschweigen»?Eine allgemeine Regel gibt es nicht. Man muss aber zwischen Privatpersonen und Institutionen wie zum Beispiel den Schulen unterscheiden. Institutionen sind bei Gefährdungen zu einer Meldung verpflichtet, Privatpersonen nicht. Wer unsicher ist, kann bei uns einen Fall zunächst anonym schildern. Das wird vor allem im Schulbereich so praktiziert. Hier besprechen wir dann mit der meldenden Person, ob alle Möglichkeiten zur Abwendung der Gefährdung ausgeschöpft sind.

Generell gilt: Im Zweifelsfall lieber eher einmal mehr als einmal zu wenig eine Meldung machen.

An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass lange nicht jede Meldung zu einem Verfahren oder einer Massnahme führt. Die Meldenden haben ausserdem wegen des Persönlichkeitsrechts der Betroffenen keinen Anspruch darauf, zu erfahren, zu welchen Massnahmen ihre Meldung geführt hat.Und was geschieht nach einer Meldung?Zunächst prüfen wir, ob ein Verfahren eröffnet wird. Ist dies der Fall, wird ein Behördenmitglied als Verfahrensleitung bestimmt. Danach wird als Erstes den Betroffenen mitgeteilt, dass ein Verfahren eröffnet wurde, und sie werden zu einem ersten Gespräch eingeladen. Im anschliessenden Verfahren klären wir dann den Sachverhalt umfassend ab. Soll nach Abschluss der Abklärung eine Massnahme verfügt werden, erhalten die betroffenen Personen die Gelegenheit, sich dazu zu äussern. Bleibt es dabei, wird schliesslich im Dreiergremium über die Massnahme entschieden.Wer eine solche Vorladung von der Kesb per Brief erhält, wird wohl zusammenzucken. Wie arbeiten Sie an Ihrem Image, damit das nicht automatisch passiert?Das Erste und Wichtigste ist, gute Arbeit abzuliefern und das rechtsstaatliche Verfahren einzuhalten. Nur so können wir Vertrauen schaffen. Das Zweite ist, dass wir uns auch mit unseren externen Partnern austauschen und unsere Entscheide erklären. Damit wollen wir unsere Grundhaltung vermitteln:

Wir sind nicht nur die Behörde, die hoheitlich entscheidet, sondern wir sind auch auf die Kooperation mit unseren Partnern angewiesen.

Und schliesslich wollen wir auch einer breiteren Öffentlichkeit unsere Aufgabe näherbringen und erklären, was wir tun und was nicht.Werden Sie wegen Ihrer Entscheide manchmal bedroht?Grundsätzlich braucht man als Mitarbeiter der Kesb schon eine dicke Haut. Aber wenn mich ein Betroffener beschimpft, dann befindet er sich ja meist in einer Ausnahmesituation. Alle unsere Leute sind gut ausgebildet und können mit solchen Situationen umgehen. Werden wir aber tatsächlich bedroht, erstatten wir konsequent Strafanzeige.Die Kesb hatte oft mit Fluktuation zu kämpfen. Wie ist die Stimmung mittlerweile im Team?Die Zeit der grossen Fluktuation war die schwierigste. Das drückte auch auf die Stimmung. Seit Juni 2020 ist die personelle Zusammensetzung aber stabil und die Stimmung im gesamten Team sehr gut. Mir macht es jeden Tag Freude, hierher arbeiten zu kommen, was ich meinem Team auch vermittle.Eine gute Basis für die Zukunft. Was sind Ihre weiteren Ziele?Das zu konsolidieren, was wir erreicht haben. Organisation und Abläufe sind definiert, jetzt kommt das Feintuning. Ausserdem haben wir noch ein weiteres grosses Projekt: die Schaffung eines Kompetenzzentrums für private Beistandspersonen. Wir möchten damit die bereits gelebte Solidarität in der Bevölkerung weiter stärken und das dazu notwendige Know-how vermitteln. Und auch die Zusammenarbeit mit den Gemeinden möchte ich weiter vertiefen.Sie sagten zu Beginn, dass Sie immer wieder neue Aufgaben suchen. Ziehen Sie bald schon wieder weiter?Nein. Ich arbeite gern für den Kanton Uri und ich möchte das Begonnene weiterführen. Die Kesb ist kein herzloser und anonymer Apparat, sondern ein Gremium, bestehend aus drei Menschen, die ihrer Aufgabe gerecht werden wollen und die manchmal auch um den besten Entscheid ringen. Das möchte ich vermitteln. Wenn es in fünf oder sechs Jahren heisst: «Es ist gut, dass es die Kesb Uri gibt», dann habe ich mein Ziel erreicht.
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