Christian Tschümperlin
Die Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte hat nun auch im Kanton Uri begonnen: Bis in die 1970er-Jahre und zum Teil noch darüber hinaus drohte Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Schweiz, die im juristischen Sinne zwar unschuldig waren, aber sozialen Randschichten angehörten oder nicht den damaligen Vorstellungen von Moral, Zucht und Ordnung entsprachen, ein düsteres Schicksal. Zehntausende wurden von Behörden ohne Gerichtsentscheid und ohne ausreichenden Rechtsschutz ihren Familien entrissen, als billige Arbeitskräfte an Bauernhöfe verdingt, entmündigt, in Arbeitsanstalten, Psychiatrien oder ein Heim eingewiesenen, wo viele körperlich gezüchtigt und einzelne sogar zwangssterilisiert wurden. Eine Studie im Auftrag des Historischen Vereins Uri (HVU) soll nun Licht ins Thema der sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bringen.
Über die Dimensionen in Uri herrscht noch weitgehend Unklarheit, wie Romed Aschwanden, Mitglied des zuständigen Fachrates des HVU sagt. 2014 setzte der Bund eine unabhängige Expertenkommission für die Erforschung der administrativen Versorgung ein. 2017 trat das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in Kraft. Das Gesetz sieht vor, dass Betroffene einen Solidaritätsbeitrag erhalten, dass die Thematik wissenschaftlich aufgearbeitet wird und Zeichen der Erinnerung geschaffen werden. Uri weiht am 6. November 2019 einen Gedenkort in Erstfeld ein.
Im Zuge der Solidaritätszahlungen des Bundes behandelte das Staatsarchiv Uri 25 Gesuche von Genötigten. Aschwanden sagt:
«Aufgrund des Vergleichs mit anderen Kantonen muss aber von einer grösseren Dunkelziffer ausgegangen werden.»
Schweizweit spricht man alleine für die Anstaltsversorgung von 60’000 Opfern. Zählt man Verdingkinder, Entmündigungen, Familienauflösungen und Ähnliches hinzu, waren weit über 100’000 Personen betroffen.
Verurteilt, weil sie anders waren
Betroffen waren laut Aschwanden Leute aus Randschichten, die man moralisch verurteilte, Andersdenkende, oder Jugendliche, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollten. Im damaligen Sprachgebrauch sprach man auch von «arbeitsscheuen» oder «liederlichen» Personen. «Die Massnahmen trafen vielfach Leute aus sozial und finanziell benachteiligten Familien oder solche, die nicht den Erwartungen der damaligen Zeit entsprachen.»
Aschwanden verortet die Gründe für das Vorgehen der Behörden im damaligen Zeitgeist. «Mit der Gründung der Nationalstaaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Idee auf, dass der Staat Massnahmen für die Volksgesundheit ergreifen musste», so Aschwanden. Es wurden Normvorstellungen ausgehandelt und der Staat fühlte sich für die Einhaltung dieser Normvorstellungen verantwortlich. «In dieser Mentalität ging es nicht um das Individuum, sondern um das Kollektiv, den sogenannten Volkskörper.» Damals hätten sich wohl die wenigsten Menschen an diesen Massnahmen gestört, hält Aschwanden fest. «Zweifellos störten sich Betroffene daran, aber Behörden und der Grossteil der Bevölkerung befürworteten, dass unkonventionelle Lebensweisen sanktioniert wurden.»
Urner wurden «verschickt»
Der Kanton Uri betrieb keine eigenen Arbeitsanstalten. Betroffene Urner wurden ausserkantonal «verschickt», etwa in die Zwangsarbeitsanstalten in Kaltbach in Schwyz, Sedel in Luzern oder Witzwil in Bern. «Nur wenige sassen lebenslang ein. Es gab aber Fälle von Personen, die nach wenigen Monaten entlassen wurden, um bald darauf wieder eingesperrt zu werden. Solche Anstaltskarrieren sind extrem tragisch», so Aschwanden.
Verantwortlich für die fürsorgerischen Zwangsmassnahen im Kanton Uri waren in erster Linie die Gemeinden. «Es waren die Gemeinderäte oder -behörden, die bestimmten, ob ein Kind verdingt oder Erwachsene in Arbeitsanstalten eingewiesen wurden», so Aschwanden. Dabei stützten sie sich auf kantonales Recht, das Zivilgesetzbuch oder das Strafgesetzbuch.
«Den Betroffenen stand kein Rechtsmittel zur Verfügung, um sich gegen die Massnahmen zu wehren.»
Der Abschlussbericht der unabhängigen Expertenkommission des Bundes sprach in diesem Zusammenhang auch von «organisierter Willkür». Ab den 1970er-Jahren änderte die Schweiz nach und nach die gesetzlichen Grundlagen. Zwar konnte man weiterhin gegen seinen Willen eingewiesen werden, doch nun wurden die Umstände klar geregelt, unter denen ein solcher Freiheitsentzug vertretbar war. Unter anderem dank der Europäischen Menschenrechtskonvention hatten fortan alle Personen in der Schweiz Anrecht auf ein faires Verfahren.
Die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Kanton Uri dürfte kein leichtes Unterfangen werden. «Aufgrund der ausserkantonalen Verschickungen könnte es schwierig werden, die Spuren der Betroffenen nachzuverfolgen», gibt Aschwanden zu bedenken. «Teilweise waren es auch Familien, die selbst eine Versorgung veranlassten», sagt Aschwanden und befürchtet, dass solche Belege schwer zu finden sein werden. Weil die Bereiche Fürsorge, Vormundschaft und Armenpflege in die Zuständigkeit der Gemeinde fielen, vertraut Aschwanden vor allem darauf, in den Gemeindearchiven Dokumente zu finden. Von besonderem Interesse seien dabei die Protokolle des Gemeinderates, die Protokolle der Armenpflege und die Unterlagen zum Vormundschaftswesen. Im Idealfall soll es der Arbeitsgruppe oder dem zuständigen Historiker oder der zuständigen Historikerin gelingen, mit den heute noch lebenden Betroffenen reden zu können.
Mit einem Fundraising wird Geld gesucht
Die Ausschreibung für die Studie ist angelaufen. Interessierte Historiker können sich bis Ende November beim Historischen Verein Uri melden. Für das ganze Projekt werden 230’000 Franken benötigt. Der Regierungsrat hat bereits 120’000 Franken gesprochen, die übrigen Beträge sollen mittels Fundraising eingenommen werden.