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Luzern

«Geduld hat heute für mich einen viel höheren Stellenwert» – Surseerin wird bei Velounfall schwer verletzt und erzählt vom langen Weg zurück ins Leben

Im Februar 2020 wird Desirée aus Sursee bei einem Velounfall so schwer verletzt, dass ihr nachher ein Teil der Schädeldecke fehlt. Ihren 30. Geburtstag verbringt sie auf der Intensivstation. Es folgt ein Marathon mit Hochs und Tiefs und einer enormen Willensleistung.
Desirée verbringt ihren 30. Geburtstag auf der Intensivstation des Luzerner Kantonsspitals. (Bild: zvg)
Urs und Desirée 15 Wochen nach dem verheerenden Unfall. Desirée trägt einen Schutzhelm, weil ihr ein Teil der Schädeldecke fehlt.
Eine Aufnahme vom 21. Mai 2020, einen Tag vor der Wiedereinfügung der Schädeldecke im Luzerner Kantonsspital.
Urs und Desirée im August 2021. (Bild: René Fuchs)

René Fuchs

 

«Eine 29-jährige Velofahrerin hat sich bei einem Sturz lebensbedrohliche Verletzungen zugezogen. Am Mittwochabend touchierte sie kurz nach 18 Uhr auf der Badstrasse in Sursee den Randstein und kam zu Fall.»

Die Polizeinachricht in der «Luzerner Zeitung» vom 7. Februar 2020 ist kurz. Lang ist danach der Genesungsweg der Verunfallten. Er gleicht einem Marathon mit Hochs und Tiefs und einer enormen Willensleistung. Ohne die vielen Menschen, die mit Rat und Tat zur Seite gestanden waren, wäre er nie möglich gewesen.

Anderthalb Jahre später besuchen wir die verunfallte Désirée und ihren Ehemann Urs in Sursee. Mit grosser Offenheit erzählen sie ihre traumatische Geschichte, um anderen Menschen mit Hirnverletzungen Hoffnung zu schenken.

Keine Erinnerung an den Unfallhergang

War es eine Unachtsamkeit, eine Ablenkung, die zum Velounfall am 5. Februar 2020 führte? Désirée kann sich nicht mehr erinnern. Was sie noch weiss, ist, dass ihr zwei Helme gestohlen worden waren und sie seither für kurze Strecken ihren Helm lieber zu Hause liess. Das Unfallprotokoll der Polizei hält fest, dass eine Augenzeugin kurz danach die Notrufnummer 144 wählte und die Bewusstlose richtig lagerte. Wenige Minuten später war der Rettungsdienst vor Ort. Der Notarzt entschied, die Patientin umgehend ins Kantonsspital Luzern zu verlegen.

Dort zeigte die Computertomografie des Schädels eine grosse Blutung zwischen der Hirnhaut und Hirngewebe in der linken Schädelhälfte auf. Laut dem leitenden Chirurgen, Dr. Edin Nevzati, verdrängte diese das Gehirn und führte somit auch zum Bewusstseinsverlust. Ferner wurden eine Schädelfraktur auf der gegenüberliegenden Seite und mehrere traumatische Hirnblutungen festgestellt – zum Beispiel dort, wo das Sprachverständniszentrum liegt. Das Schädelhirntrauma war akut lebensbedrohlich und erforderte eine sofortige Operation.

Pflegepersonal führt Tagebuch

In der Zwischenzeit hatte die Luzerner Kantonspolizei Ehemann Urs telefonisch auf dem Heimweg erreicht. Zusammen mit Désirées Eltern wartete er während der Nacht im Kantonsspital Luzern gebannt und unruhig auf die Worte: «Désirée ist über dem Berg!» Doch die Hoffnung schwand um Mitternacht in der Notaufnahme. Unerwartet folgte eine zweite Operation. «Während des Wundverschlusses fiel mir nach einer anfänglich sehr guten Druckentlastung des Gehirns eine leichte, jedoch bemerkbare Hirnschwellung auf», schildert Chirurg Nevzati diese dramatischen Minuten. Eine weitere CT-Untersuchung bestätigte eine Blutung zwischen der Schädelkalotte und der harten Hirnhaut nun auf der rechten Seite (gegenüberliegende Seite der Erstoperation). «Mir bereitete es Sorge, dass damit eine beidseitige Schädeloperation notwendig wurde, um das Schädelhirntrauma zu kontrollieren.» Dank einem hervorragenden Team gelang es auch diesen Bluterguss schnell zu entfernen.

«Seit drei Uhr nachts sind Sie nun bei uns auf der Intensivstation zur Überwachung», hielt fein säuberlich von Hand geschrieben eine Pflegefachperson in Désirées Intensivstation-Tagebuch fest. Noch heute lässt es beim Durchblättern die belastenden und von Hoffnung geprägten Tage im künstlichen Koma wieder aufleben. Das Tagebuch hilft die entstandenen Erinnerungslücken zu füllen und das unbewusst Erlebte zu verarbeiten. Berührend sind die Texte der Angehörigen, Freundinnen und des Pflegepersonals: «Mami hat dir heute ein paar Fotos an die Wand geklebt, damit du dann, wenn du aufwachst, all deine Lieben bei dir hast.»

Ein besonderer Geburtstag

Am 12. Februar 2020 war Désirées 30. Geburtstag. Kein Fest und doch ein riesiges Geschenk: das Leben! «Ihr Ehemann beschrieb sie liebevoll als lebensfrohe, aktive und kämpferische Frau – kämpfen Sie, ich wünsche ihnen viel Kraft», schreibt eine Expertin der Intensivpflege mit farbenfrohen Geburtstagswünschen ins Tagebuch.

Zuversicht macht sich an diesem Tag besonders breit, als Désirée zum ersten Mal im Bett aufgesetzt werden kann. Tags darauf konnte der beim Velounfall zugezogene Schlüsselbeinbruch operiert und der Beatmungsschlauch entfernt werden. «Es macht grosse Freude, Ihre gesundheitlichen Fortschritte miterleben zu dürfen», notierte eine Pflegefachfrau. Unbeschreiblich bleibt für Urs der Moment, als ihn seine Frau zu Fuss am Eingang der Intensivstation in Begleitung einer Betreuenden abholt. Der Himmel war voller Geigen.

Wie ein Hurrikan im Kopf

13 Tage nach dem Unfallschock wurde Désirée in den 6. Stock des Luzerner Kantonsspitals verlegt. Der Start der Ergo- und Physiotherapie und der Logopädie erfolgte. «All die Informationen musste ich im Gehirn zuerst wieder bündeln. Sie waren da – irgendwo, aber ich fand sie nicht oder nur langsam», sagt Désirée. Der Vergleich mit einem Hurrikan, der in einem Büro alle Akten aus den offenen Schubladen durcheinandergewirbelt hat, half ihr dabei.

Die Tagesabläufe wurden nun durchgeplant, das eigene Tagebuch gefüllt und zunehmend der Wortschatz mit all den richtigen Zuordnungen verbessert. Ein Zahnstocher war zum Beispiel kein «Waldesel» mehr. Das Chirurgen- und Therapeutenteam staunte ab den enormen Fortschritten. «Ich versuchte, alles zu geben. Doch die Müdigkeit war dabei das grösste Hindernis», hält die mehrsprachige Désirée fest. Nach der Verlegung in den 16. Stock am 26. Februar 2020 konnte auch die Neuropsychologietherapie ausgeweitet und das Englisch-Training begonnen werden.

Der anbrechende Corona-Lockdown Mitte März 2020 liess die Seele darben. Nur noch ein täglicher Besuch von zwei Stunden war im Spital möglich. Blicke in den Spiegel waren oft gewohnheitsbedürftig. Denn der operativ entfernte Teil der linken Schädeldecke musste erst noch wieder eingefügt werden. Das Tragen eines Schutzhelms gehörte zum Alltag.

Sieben Wochen nach der Notfalleinlieferung durfte Désirée glücklich nach Hause zurückkehren. All die begonnenen Therapien konnten in der Region Sursee erfolgreich weitergeführt werden. Doch der 22. Mai 2020 rückte näher: Die vierte Operation stand bevor. Die am 5. Februar operativ entfernte Schädeldecke musste im Kantonsspital Luzern von Chirurg Edin Nevzati und seinem Team wiedereingesetzt werden. Vier Tage danach erfolgte ohne Zwischenfälle die Heimkehr.

Aber wie weiter mit dem Berufsleben? Arbeiten im Haushalt konnten schon mit der nötigen Vorsicht und genügend Zeit bewältigt werden. Die Ergotherapeutin wies zu Recht auf einen bedächtigen Start als Projektleiterin einer NGO-Organisation hin. Dies zeigte sich bei einem Testlauf Mitte Juni am Arbeitsplatz. Die Müdigkeit und die mangelnde Konzentrationsfähigkeit verunmöglichten eine längere Arbeitszeit. Einzelne Wochenhalbtage entsprachen dem Genesungsfortschritt.

Geduld hat einen hohen Stellenwert

Exakt ein halbes Jahr nach ihrem Unfall bestieg Désirée zum ersten Mal wieder ein Velo. Ihr Mann Urs half ihr bei der vorsichtigen Fahrt. Mitte Oktober – ein Schreckmoment! Erneut ein Velosturz, doch zum Glück ohne Verletzungen. «Eine Panikattacke hatte mich zur Vollbremse veranlasst und mich zum Sturz gebracht», schildert die junge Frau diesen bangen Moment. «Nun wurde mir bewusst, dass ich in einer Psychotherapie mein Trauma aufarbeiten muss.»

Mit den Monaten glich sich auch die schwankende Gefühlslage immer mehr aus. Dass man mit kleinen Schritten im Leben mehr erreichen kann, war zwangsgebunden eine der wichtigsten Lebenserfahrungen. Posttraumatische Hirnleistungsschwächen hinterlassen langandauernde Symptome. Die Geschwindigkeit der Denkabläufe verlangsamt sich und sie müssen erst wieder aufgebaut werden. «Ende letzten Monats fühlte ich mich erstmals wieder so wie vor dem Unfall im Februar 2020», strahlt Désirée und fügt bei: «Ich habe gelernt, auf meinen Körper zu hören – stur die Müdigkeit ignorieren und weiterkämpfen verlangsamt nur den Erholungsprozess des Gehirns. Die Geduld hat heute für mich einen viel höheren Stellenwert.» Mit ihrem Arbeitspensum von 80 Prozent ist sie mehr als zufrieden – die Ziellinie liegt nun sehr nahe.

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