Die Schweiz vor 13’000 Jahren: Weite Teile des Landes sind von einer unwirtlichen Kältesteppe überzogen. Die gigantischen Gletscher ziehen sich immer weiter zurück, so auch der Gletscher Griessfirn bei der Chammli Alp am Klausenpass. Freigelegt wurde damals eine erste Moräne. Und genau vor der steht Britta Kattenstroth. Sie ist Teil eines 17-köpfigen, interdisziplinären Forscherteams der Universitäten Zürich, Freiburg im Breisgau und dem Geoforschungszentrum in Potsdam. Gekommen sind die Wissenschafter, um Experimente durchzuführen, die in dieser Art bisher einmalig sind.
Hat denn der Klimawandel damals schon eingesetzt, wenn sich der Gletscher bereits vor 13’000 Jahren zurückzog? «Nein, das Kommen und Gehen der Gletscher war damals Teil von natürlichen Kalt- und Warmzeiten», sagt sie. Kattenstroth zeigt auf eine dahinterliegende Moräne, die vor 5000 Jahren freigelegt wurde und auf zwei weitere, von denen eine erst 80 Jahre alt ist. «Beeindruckend ist, wie viel schneller sich der Gletscher in den letzten Jahren zurückzieht», sagt sie. Für die Zukunft hat sie denn auch keine guten Nachrichten: «Der Griessfirn-Gletscher wird bald ganz verschwinden, das ist nicht mehr aufhaltbar.»
Der Klimawandel ist zwar nicht der Hauptgrund, warum die Forscher vor Ort sind, auch wenn er sich wie ein roter Faden durch die Gespräche zieht. Trotzdem könnten ihre Erkenntnisse helfen, dass sich die Menschen an den Klimawandel anpassen können. Denn dank ihrer Modelle soll man künftig zum Beispiel die Auswirkungen von Starkniederschlägen besser verstehen können.
Die vorbeigehenden Wanderer wundern sich
Unter Wanderern, die an den Forschern vorbeigehen, sorgt das Experiment durchaus für Gesprächsstoff. Der Versuchsaufbau bietet nämlich einen ulkigen Anblick: Hier oben, auf über 2000 Metern Höhe, bewässern Sprinkleranlagen mehrere Moränen. Das Wasser stammt aus dem Gletscherbach. Es wird über das Gefälle in zwei Pools geleitet, die je 5000 Liter Wasser fassen. Und von da, über Feuerwehrschläuche, auf die Moränen. Auf der 13000 Jahre alten Moräne, die gerade an der Reihe ist, stehen zwei schwarze Kippwagen, welche den Niederschlag messen. Unten am Hang fangen Rinnen das abfliessende Wasser auf. Zwei Schläuche führen es in eine Kiste, in welcher der Abfluss quantifiziert wird. Unter einem Regenschirm macht sich Hydrologe Fabian Maier von der Universität Zürich Notizen.
«Wir machen Beregnungsexperimente mit verschiedenen Intensitäten», sagt er. Dabei gehe es vor allem darum, herauszufinden, wie sich das Alter unterschiedlicher Moränen auf die Abflussmechanismen auswirke. «Den Oberflächenabfluss messen wir über eine Rinne, den oberflächennahen Abfluss bis 60 Zentimeter Tiefe über eine Drainagematte», sagt er. Den dritten Abfluss, jenen ins Grundwasser, können die Forscher nur abschätzen. «Uns interessiert: Wann sehen wir wie viel Oberflächenabfluss und wie viel tiefgründigeren Abfluss?»
Ein ähnliches Experiment haben die Forscher bereits vergangenes Jahr am Sustenpass durchgeführt. «Die jüngeren Moränen geben das Wasser schneller frei», sagt Maier. Am Klausenpass erwarten die Forscher ein ähnliches Resultat, wenn auch etwas weniger oberflächennahe Abflüsse als am Sustenpass. «Am Sustenpass hatten wir es mit Silikatgestein zu tun, das in der Alpenregion prominent vorkommt.» Im Unterschied zum Silikatgestein sei das Kalkgestein am Klausenpass brüchiger und stärker verwittert. «Durch die Ritzen des Kalkgesteins fliesst das Wasser hier oben tiefgründiger ab», sagt er. Ob sich dadurch die Abflussgeschwindigkeit verlangsame? «Ja, prinzipiell kann man sagen, wenn das Wasser tiefgründiger abfliesst, hat es eine längere Durchlaufzeit», so Maier.
Von der Grundlagenforschung zur praktischen Anwendung
Und wozu das alles? «Wenn man nun weiss, wie viele alte und junge Moränen in einem Gebirge vorkommen, dann kann man das quantifizieren und in Modelle packen», sagt er. So könne man die Durchlaufzeit des Wassers durch ein Gebirge berechnen. Was die Forscher tun, ist also Grundlagenforschung. Eines Tages kann diese aber zu einer praktischen Anwendung kommen. «Angenommen, unter einem Gebirge steht ein Wasserkraftwerk. Dann kann das Energieunternehmen genau ausrechnen, wie lange es nach einem Niederschlag dauert, bis das Wasser in den Turbinen ankommt. Das erhöht die Planungssicherheit», so Maier.
Jede Moräne wird mit drei unterschiedlichen Intensitäten beregnet: Einmal handelt es sich um ein Niederschlagsereignis, das im Durchschnitt alle zwei Jahre auftritt, einmal um eines, das alle 20 Jahre auftritt, und einmal um eines, das alle 100 Jahre auftritt.
Einer, der die Situation vor Ort ebenfalls bestens kennt, ist Hydrologieassistent Florian Lustenberger von der Universität Zürich. Lustenberger interessiert sich auch für die Erosion am Hang, also für Hangrutschungen. «Bei den älteren Moränen sind Erosionen seltener, weil sie stärker bewachsen sind. Das sieht man ja, wenn Wälder abgeholzt werden und dann die ganze Stabilität des Hanges weg ist.» Der Grund: Die Wurzeln der Pflanzen halten den Hang zusammen.
Verdunstungskälte wird vor allem im Wald spürbar
Ein Spezialist auf dem Gebiet der Vegetation ist Biologe Konrad Greinwald von der Universität Freiburg. Mit einer Thermalkamera in der Hand ist er der Verdunstung der Pflanzen auf der Spur. «Die Pflanzen scheiden Wasser aus, also transpirieren», sagt er. Wenn das Wasser vom flüssigen in den gasförmigen Zustand übergehe, werde Wärme verbraucht und Verdunstungskälte freigesetzt. Im Wald sei diese Kälte besonders gut spürbar. «Wir sind daran interessiert, herauszufinden, wie viel Wasser aufgenommen wird und wie viel dann wieder verdunstet», sagt er.
Und worin liegt der Nutzen seiner Erkenntnisse in Bezug auf die übergeordneten Fragen von Hangstabilität und Wasserabfluss? «Ich schreibe erstmals meine eigene Doktorarbeit zur Vegetation. Nichtsdestotrotz ist es die Idee, dass alle Wissenschafter an den Schnittstellen zusammenarbeiten», sagt Greinwald. Fabian habe beispielsweise die Versickerungsraten gemessen. «Er brauchte meine Vegetationsparameter, um zu untersuchen, ob die Versickerung mit der Vegetation zusammenhängt», so Greinwald. Dass dem so ist, konnten die Forscher zeigen: «Der Zwischenabfluss ist auf den älteren Moränen mit starker Vegetation grösser», sagt er. Die Ursache: Wenn man mehr Wurzeln hat, sickert das Wasser leichter in den Boden ein und kann dann abfliessen.
Ältere Moränen sind stärker bewachsen, weil auf den jüngeren Flächen noch keine Samenbank vorhanden ist. «Voraussetzung, damit sich eine Pflanze ansiedeln kann, ist, dass der Samen gewisse Eigenschaften mitbringt», sagt Greinwald. Die Samen müssten recht klein sein, damit sie vom Wind verfrachtet werden könnten und ausserdem eine gute Keimfähigkeit aufweisen, weil sie ja der Umwelt direkt ausgesetzt seien und noch keine Deckung finden könnten.
Wie klein die Probleme der Menschen doch sind
Greinwald kennt die Pflanzenwelt auf den Moränen bis ins Detail: Er zeigt auf eine violette Blume: «Das ist eine Fleischers Weidenröschen, eine Alpenpflanze», sagt er. Sie breite sich schnell aus, weil die Samen leicht seien. Auf den älteren Moränen dominieren andere Arten. Hier sind es bestimmte Grasarten, die das Bild prägen, etwa die Groll-Blume, der Löwenzahn und der Wiesenklee.
Hoch oben am Hang starten Cameran Abrahimi und Manuel Lopez von der Oregon State University unterdessen eine Drohne. Von hier oben haben die beiden einen guten Überblick über das Geschehen unter ihnen. «Wir arbeiten unter Fabian und sind sozusagen angeheuerte Muskeln», meint Abrahimi. Mit ihren Geräten untersuchen sie die Topografie des Geländes. «Wir machen ein Profil vom Boden», sagt Lopez. Und während sie auf die Experimente hinabblicken, wird einem plötzlich bewusst, wie klein die Probleme der Menschen doch sind. Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen die Natur.