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Luzern

Emmenbrücke: Für die Viscösler wird seit 100 Jahren gut gesorgt

Die Stiftung Viscosuisse leistete Sozialbeiträge, als es noch keine staatliche Vorsorge gab. Auch heute ist sie für viele Mitarbeiter des einst grössten Arbeitgebers in Emmenbrücke wichtig.

Was wäre Emmenbrücke ohne die Viscösler? Es gibt kaum eine Emmer Familie, die keinen Bezug zur Viscosuisse hat, jenem Industriebetrieb, der die Gemeinde das letzte Jahrhundert hindurch prägte. Noch heute sind die Spuren aus der Blütezeit der Kunstgarnfabrik im Ortsbild erkennbar – nicht nur in der aus dem Fabrikgelände entstandenen Viscosistadt, sondern auch in ehemaligen Arbeiterquartieren wie dem Sonnenhof.

Aus dem Konkurs der Firma 2009 gingen die vier heutigen Unternehmen Monosuisse, Swissflock, Tersuisse und Viscosistadt AG hervor. Deren Mitarbeiter werden von der ebenfalls erhalten gebliebenen Stiftung Viscosuisse betreut, die heuer ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Mit ihr haben die damaligen Patrons in einer Zeit, in der Sozial-, Krankenversicherung und Altersvorsorge höchstens etwas für Privilegierte war, für ihre Arbeiterschaft vorgesorgt. 1919 als patronale Stiftung gegründet, war sie bis in die Nullerjahre in die Firma integriert.

Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie

Die Viscosuisse – die im Lauf der Zeit verschiedene Namen trug – war Anfang des 20. Jahrhunderts einer der vorbildlichsten Arbeitgeber in Sachen Sozialleistungen. «Das war für die damalige Zeit aussergewöhnlich», sagt Erika Roos, Geschäftsführerin der Stiftung. Es gab einen betriebseigenen Kindergarten, Ferienhäuser, welche die Angestellten zu günstigen Tarifen mieten konnten, in Sörenberg gar ein Hotel und ein Hallenbad, diverse Sportvereine inklusive Sportanlagen im Gersag, Sport- und Skitage, Ferienlager für Kinder sowie Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie. Stiftungsratspräsident Peter Reinthaler erzählt:

«Bis in die 70er-Jahre gab es jeweils eine Wunschliste, auf der man ankreuzen konnte, ob man beispielsweise Wanderschuhe oder Bettwäsche wünscht.»

Sehr aktiv war die Viscosuisse im sozialen Wohnungsbau. Seit ihrer Gründung 1906 hat die Firma systematisch Land in Emmenbrücke gekauft und später neben der Firmenerweiterung auch Wohnhäuser für ihre Mitarbeiter erstellt. «Der Firma gehörte halb Emmenbrücke», sagt Reinthaler und erklärt: «Die ÖV-Verbindungen waren sehr schlecht. Da im Schichtbetrieb gearbeitet wurde, war es nötig, dass die Mitarbeiter einen kurzen Arbeitsweg hatten.» Zu Spitzenzeiten beschäftigte die Viscosuisse rund 3500 Arbeiterinnen und Arbeiter in Emmenbrücke. Auch die italienischen Gastarbeiter, die ab den 50er-Jahren nach Emmenbrücke kamen, wollten irgendwo untergebracht sein.

So entstanden unter anderem die Arbeitersiedlungen im Sonnenhof, im Riffig, im Unterspitalhof, die Direktorenhäuser in der Herdschwand wie auch ein Mädchenpensionat. Peter Reinthaler erinnert sich:

«Die Löhne waren unterdurchschnittlich. Die guten Sozialleistungen und das günstige Eigenheim machten das aber wett.»

Er selbst wohnte in den 70er-Jahren in einem 5-Zimmer-Einfamilienhaus, für das er lediglich 500 Franken im Monat zahlte. Angesichts der hohen Mietpreise legt die Stiftung noch heute grossen Wert auf das Schaffen und den Erhalt günstigen Wohnraums.

Kartoffeln pflanzen im zweiten Weltkrieg

Während der Kriegsjahre musste die Fabrik zeitweise geschlossen werden. Doch die Belegschaft blieb grösstenteils angestellt, neben den Stempelgeldern der Arbeitslosenkasse erhielten sie einen Zuschuss von der Viscose-Stiftung. Zudem wurden Arbeitslager und Kartoffelpflanzaktionen durchgeführt, um die Arbeiter zu beschäftigen. Die Stiftung vergab auch Wohnbaudarlehen zum Vorzugszins – dies gilt noch heute. Daneben ermöglichte die Stiftung eine Fabrikfürsorge: Familien wurden beraten, kranke Kinder gepflegt, wirtschaftliche Sozialhilfe geleistet. Auch Überbrückungsrenten und die Betriebskrankenkasse wurden durch die Stiftung finanziert. Pensionierte profitierten ebenfalls von den Sozialleistungen.

In den 1990er-Jahren übernahm die Stiftung eine wichtige Rolle, indem sie die Hälfte der Restrukturierungskosten der Firma übernahm. Dafür veräusserte sie Grundstücke und Immobilien, die heute teils in Gemeindebesitz sind, darunter die Sportanlagen im Mooshüsli und das Gersag-Areal, auf dem heute die Gemeindeverwaltung steht. Damit die Firma an Geld kam, kaufte ihr die Stiftung «wertlose» Grundstücke ab – etwa das Emmenweid-Areal. Und nach dem Konkurs ermöglichte die Stiftung den Weiterbetrieb, indem sie der Firma den Parkplatz neben dem Kino Maxx abkaufte, sodass die Firma anstehende Löhne zahlen konnte.

Kleindarlehen und Schuldenberatung

Heute ist die Hauptaufgabe der Stiftung die finanzielle Unterstützung der Pensionskasse. Sie tut dies, indem sie jedem Versicherten die entgangene Verzinsung seines Kapitals sichert. Doch ihr Engagement reicht weiter. So gewährt sie Studiendarlehen für die Kinder der Angestellten und leistet Nothilfe in Form von Kleindarlehen und Schuldenberatung. «Dies ist für Menschen aus anderen Kulturkreisen oft besonders wichtig, damit sie aus der Schuldenfalle kommen oder besser gar nie hinein geraten», so Erika Roos. Etwa wenn die Angestellten Kredite von dubiosen Instituten aufnehmen, weil sie eine Hausreparatur oder eine Hochzeit in der Heimat finanzieren müssen, und dadurch in die Schuldenfalle treten.

Heute hat die Stiftung Viscosuisse noch rund 800 Destinäre – also Begünstigte. Sie profitieren von Vergünstigungen, können Reka-Checks kaufen, erhalten alle fünf Jahre eine persönliche Geburtstagskarte. Altersheimbewohner werden zu Weihnachten besucht, es gibt jährlich einen Veteranenanlass, und zur Beerdigung gibt es einen Beileidskranz. Erika Roos sagt:

«Viscösler bleibt man bis zum Tod.»

Die Stiftung zeige damit den Respekt gegenüber den Menschen, die hart für das Unternehmen arbeiten. «Das wird von den Leuten sehr geschätzt.» Und Peter Reinthaler ergänzt: «Die Viscösler sind wie eine grosse Familie. Viele haben eine enge emotionale Bindung zum Betrieb.»

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