Lena Berger
Lena Berger
Lena Berger
Im Jahr 1937 muss unter den Homosexuellen in der Stadt Luzern die Angst umgegangen sein. Karl Z. war gerade erst zum Amtsstatthalter bzw. Staatsanwalt gewählt worden – und die Bekämpfung von Schwulen und Strichjungen stand absolut zuoberst auf seiner Prioritätenliste. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, zwei seiner Männer fast ein Jahr lang dafür abzustellen, alle zu kontrollieren, die der Homosexualität verdächtigt wurden – selbst, wenn sie nur durch anonyme Schreiben angeschwärzt worden waren.
Mit einer Inbrunst, die fast an Besessenheit grenzte, führte das Amtsstatthalteramt Ermittlungen, die sich gegen über 100 Männer richtete. Karl Z. war davon überzeugt, dass es sich dabei nur um die Spitze des Eisbergs handelte. Die angeblich «gewaltige Ausdehnung» der Homosexualität – der Amtsstatthalter vermutete einige hundert in der Stadt Luzern – betrachtete er als eines der «ernstesten Lebensprobleme.»
Besonders die Strichjungen hatte Karl Z. im Auge. Diese würden nicht nur moralisch und sozial abrutschen, ein Grossteil von ihnen würde in späteren Jahren zu Verbrechern, war er überzeugt. Dass die meisten der Betroffenen verwaist, arbeitslos und mausarm waren, und sich mit der Prostitution mehr schlecht als recht über Wasser hielten, erfasste der Amtsstatthalter zwar in seiner akribisch geführten Statistik.
Dass die Kriminalität primär darin ihren Ursprung haben könnte, blendete er aber weitgehend aus. Für ihn war klar: Die Homosexuellen «infizieren» die Strichjungen mit ihrer «sittlichen Verkommenheit»: «Der Jugendliche wird durch die homosexuelle Betätigung in seiner Entwicklung zu einem brauchbaren Menschen gestört. Er kann dabei zugrunde gehen. Innert kurzer Zeit wird aus dem gesunden, durchaus positiv eingestellten Jugendlichen ein schlapper, energieloser Mensch.» Diese Worte schrieb Karl Z. in dem Artikel «Die Bekämpfung der männlichen Prostitution», welcher 1939 in der «Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht» erschien.
Sympathie mit der Gesetzgebung der Nationalsozialisten
Es fällt auf, wie fanatisch der Luzerner Amtsstatthalter in dem Artikel die Homosexualität als «unheilbare Krankheit» verteufelte. Er war überzeugt, dass von homosexuellen Handlungen schwere gesundheitliche Schäden entstehen, wie dies auch bei der exzessiven Selbstbefriedigung der Fall sei. Er warnte vor der «Gefahr des Verführens der Jugend» – eine Auffassung, mit der man auch im nationalsozialistischen Deutschland die Verfolgung von Schwulen rechtfertigte. Der Lausanner Professor Thierry Delessert, der sich mit der Geschichte der Homosexualität in der Schweiz intensiv auseinandergesetzt hat, erkennt in den Äusserungen von Karl Z. denn auch eine Sympathie für die Politik des Nationalsozialisten Heinrich Himmlers «unter dem Deckmantel des Kampfes gegen die Strichjungen.» Tatsächlich widmet Karl Z. der nationalsozialistischen Gesetzgebung in dem erwähnten Artikel ein ganzes Kapitel und rühmt die Änderung des Paragrafen 175 a als «Plattform für einen umfassenden Kampf gegen die männliche Prostitution». Besagter Paragraf hatte in Nazi-Deutschland zur Folge, dass Männer selbst für «begehrliche Blicke» untereinander zu Gefängnis verurteilt werden konnten.
Strichjungen wurden in Erziehungsanstalten «versorgt»
Der Luzerner Amtsstatthalter war überzeugt, dass man der «homosexuellen Welle» nur mit «scharfer Ahndung» entgegentreten könne. Er plädierte dafür, bei der Polizei einen Spezialdienst aufzubauen, der Homosexuelle und Strichjungen beobachten und diese «mit der Zeit an deren typischen Habitus» erkennen sollte. Auf Karten sollten alle «Wahrnehmungen über die betreffenden Personen» eingetragen werden. Diese Fichen sollten nach Möglichkeit auch mit Bildern der Personen versehen werden. Karl Z. forderte gar, dass eine schweizerische Zentralkartei errichtet wird, in der alle Angaben über die der Homosexualität verdächtigten Personen gesammelt würden – und zwar ohne Rücksicht auf das Ergebnis der Strafuntersuchung. Der Amtsstatthalter persönlich leistete entsprechende Vorarbeiten und legte im Zusammenhang mit der von ihm initiierten Hetzjagd im Jahr 1937 eine eigene Strichjungenkartei an.
Die Verfolgung im besagten Jahr war beispielslos. 55 junge Männer wurden verdächtigt, Strichjungen zu sein. Die meisten von ihnen waren über 18 Jahre alt. Obwohl sich kaum je nachweisen liess, dass sich einer von ihnen etwas zu Schulden hätte kommen lassen, wurde ein Grossteil von ihnen bevormundet und zur Nacherziehung in verschiedene Heime gebracht – darunter in die Zwangsarbeitsanstalt Sedel.
«Die Jugendlichen werden bei sittlicher Verwahrlosung oder Verdorbenheit in die Erziehungsanstalt eingewiesen», schreibt dazu Karl Z. in seinem Artikel. Das Ganze sollte angeblich dem Schutz der jungen Männer dienen. Wegen der Gefahr der «Infizierung der übrigen Anstaltsinsassen» forderte Z. allerdings, dass sie separat untergebracht werden sollten. 16 der mutmasslichen Strichjungen wurden mindestens ein Jahr «versorgt» – zum Schaden der Allgemeinheit, wie der Amtsstatthalter betonte. Er rechnete vor, dass eine Unterbringung den Staat pro Person und Jahr rund 7800 Franken koste, was heute einem Wert von fast 60 000 Franken entspricht.
Auch Freier und sonstige Homosexuelle gerieten ins Visier von Karl Z. Wer am Bahnhof, auf dem Inseli und auf dem Kurplatz am Quai «herumlungerte», machte sich verdächtig – denn diese Orte galten als Stricherplätze. Homosexuelle aus höheren Gesellschaftsklassen hingegen trafen sich in Hotels, etwa dem «Du Lac» mit dem bekannten Floragarten. Dies geht aus dem Polizeibericht hervor. Denn dort hatte sich ein Musikdirektor eingemietet, der mehrfach junge Burschen aufs Zimmer geholt haben soll. Teilweise soll es zu regelrechten Orgien gekommen sein, an welchen auch der damalige Handelsregisterführer beteiligt gewesen sein soll. Letzterer soll zudem ein Zimmer neben dem Hotel «Drei Könige» angemietet haben, in dem er sich heimlich mit Liebhabern traf.
Verdacht gegen Mitarbeiter der Vormundschaftsbehörde
Heikel wurden die Ermittlungen, als mit Oscar C. auch noch ein angesehener Mitarbeiter der Vormundschaftsbehörde in die Ermittlungen einbezogen wurde. Dieser sass mit Karl Z. im Grossen Rat und war – Zufall oder nicht – ein politischer Gegner. Karl Z. war ein Liberaler, Oscar C. gehörte der konservativen Partei an.
Minutiös sammelte das Amtsstatthalteramt Aussagen aus dem «Kreise der Luzerner Strichjungen.» Einer behauptete zum Beispiel, er habe eine goldene Uhr von dem Herrn dafür bekommen, dass er ihm «einen abgerieben» habe. Er zog diese Aussage aber später wieder zurück. Karl Z. war überzeugt, dass der Mitarbeiter seine Funktion bei der Vormundschaftsbehörde nutzte, um auf die minderjährigen Zeugen Druck auszuüben. Er strengte deshalb ein Verfahren wegen Amtsmissbrauch an. Da aber alle Beteiligten eine entsprechende Einflussnahme abstritten, verlief auch diese Spur im Sande.
Den Amtsstatthalter Karl Z. muss dies besonders gefuchst haben. In seinem Bericht hielt er zähneknirschend daran fest, dass Oscar C. «stark verdächtig» sei, trotz seiner Bestreitung homo- bzw. bisexuell zu sein. Z. musste aber einräumen, dass ein Beweis für homosexuelle Beziehungen mit Minderjährigen fehle. Entgegen seinem Antrag entschied das Gericht, dass in Luzern die gegenseitige Onanie zwischen volljährigen Männern nicht strafbar sei.
Dieser Umstand war Karl Z. ein echter Dorn im Auge – zumal Homosexualität damals beispielsweise in den Kantonen Nid- und Obwalden, Schwyz, Uri und Zug noch uneingeschränkt strafbar war. 1937 wurde sie durch das eidgenössische Strafgesetzbuch in der ganzen Schweiz legalisiert – eine Änderung, die aber erst 1942 in Kraft trat und die Karl Z. dezidiert bekämpft hatte (siehe Exkurs am Ende des Textes).
Homosexuelle Kurgäste: Eine Gefahr für die Jugend Luzerns
Die strafrechtliche Situation in Luzern war für den Amtsstatthalter in höchstem Masse unbefriedigend. Die Strafverfahren mussten in vielen Fällen eingestellt werden, weil viele Verdächtige ihre homosexuelle Veranlagung abstritten und sich mangels Beweisen nichts anderes feststellen liess. Kommt hinzu, dass die beiden Spezialdetektive der Polizei 1938 abkommandiert wurden und die «Homosexualität nicht mehr gleich intensiv kontrolliert» werden konnte – offenkundig zum Leidwesen des Amtsstatthalters. Karl Z. warnte explizit vor einer Zunahme der Kriminalität durch die Ausbreitung des Strichjungenwesens.
Dabei betrachtete er den florierenden Tourismus als zusätzlichen Gefahrenherd – denn die Stadt übe auf «Auswärtige in homosexueller Richtung eine besondere Anziehungskraft» aus. Damit war Karl Z. einer der frühen Kritiker des Fremdenverkehrs in Luzern, der mittels des Werbefilms «Luzern und Vierwaldstättersee» 1937 noch angekurbelt werden sollte.
«In Luzern hat das Problem dadurch einen besondern Aspekt, dass der Fremdenverkehr mit der nachgewiesenen saisonmässigen Zureise homosexuell veranlagter Kurgäste mit ihrer Nachfrage nach jungen Leuten die Jugend Luzerns besonders gefährdet.» An dieser Aussage ist besonders deutlich erkennbar, wie stark sich das gesellschaftliche Verhältnis zur Homosexualität heute geändert hat. Am kommenden Donnerstag debattiert der Luzerner Grosse Stadtrat darüber, ob die Stadt dem Rainbow Cities Network beitreten soll – einem Netzwerk, das sich gegen die Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Menschen einsetzt. Lanciert hat den Bevölkerungsantrag BDP-Präsident Denis Kläfiger, der sich von dem Label unter anderem positive Impulse für den Tourismus erhofft, weil viele Homosexuelle finanziell gut gestellt seien und gerne reisen. Auch Luzern Tourismus-Sprecherin Sybille Gerardi äusserte sich gegenüber 20 Minuten kürzlich dahingehend: «Wenn aufgrund des Beitritts in Luzern entsprechende touristische Angebote entstünden, wäre das positiv für den Tourismus», sagte sie. Nicht ohne zu betonen, dass Luzern in diesen Belangen nicht gerade in einer Vorreiterrolle sei.
Bevölkerungsantrag hat gute Chancen im Parlament
Während homosexuelle Touristen vor 80 Jahren also noch von hohen Luzerner Behördenmitglieder als ernst zu nehmende Gefahr bezeichnet wurden, sind sie heute eine umworbene Zielgruppe. Der Stadtrat beantragt zwar, den Bevölkerungsantrag nur teilweise als Postulat entgegenzunehmen. Die Mehrheit der zuständigen Sozialkommission hingegen ist für einen Beitritt mit dem «die Anliegen und Wünsche der LGBTI-Community gestärkt» würden. Da in der Sozialkommission wie auch im Grossen Stadtrat die Parteien SP, Grüne und GLP eine Mehrheit stellen, dürfte der Bevölkerungsantrag auch im Parlament gute Chancen haben.
Quellen
- Untersuchung gegen verschiedene Homosexuelle durch das Amtsstatthalteramt Luzern-Stadt, 1937, Staatsarchiv Luzern (C 20/8)
- Die Bekämpfung der männlichen Prostitution, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 1939, Staatsarchiv Luzern (PA 315/1491).
Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, Straflosigkeit in Grenzen von Thierry Delessert, Jg. 15, 2013
- Die Entwicklung des Luzernischen Strafverfahrens in Der Geschichtsfreund: Mitteilungen des Historischen Vereins Zentralschweiz, Band 114 (1961)
- Konstruktion von Homosexualität während der Vereinheitlichung des StgBs, Natalia Gerodetti in Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 21 (2006)
- Ernennung von Oscar C. zum Kriminalgerichtsschreiber, Staatsarchiv Luzern (42/1967)
- Ehrung von Oscar C. nach seinem Tode im Grossen Rat, Staatsarchiv Luzern (RZ 26/3)
- Sternmatt-Chronik 1269-1998, Edgar Rüesch
- Personaldossier Sales S., Staatsarchiv Luzern (47/478)
- Hotelbilder: Hotelarchiv Schweiz
- Bilder von der Zwangsarbeitsanstalt Sedel, Staatsarchiv 4B/1818
- Bilder vom Quai, Lisa Meyer-List, Staatsarchiv 102/2533
- Film: «Luzern und Vierwaldstättersee», 1937, Staatsarchiv Luzern FDC 97 3)