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Uri

Das weisse Leintuch

Da die Kantonsbibliothek dieses Jahr ihr 50. Jubiläum feiert, schreiben Urner Autoren zwei Geschichten mit demselben Anfang. Heute: Teil 4.

«Esmeralda!» Sefa hauchte den Namen vor sich hin und spürte, wie sich das Toggeli, das sie schon lange besiegt glaubte, tonnenschwer auf ihrer Brust wälzte. Wie hatte sie in all den Jahren gehofft, Esmeralda sei für immer aus ihrem Leben entschwunden. Tatsächlich träumte sie nur noch selten von ihr. Doch wenn dies der Fall war, erwachte sie stets schweissgebadet und schlotternd wie zuweilen ihr Spaniel «Latzi», den sie in Verehrung zu ihrer ehemaligen Chefin so getauft hatte.

An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken und selbst eine heisse Tasse Lavendeltee vermochte nicht das Geringste auszurichten. Ihren rasenden Puls in einigermassen normale Bahnen brachte sie nur, wenn sie mitten in der Nacht in die Bibliothek eilte, um nachzusehen, ob das UA-1009-Buch noch im Gestell war. Vor bald zwölf Jahren, es war der 13. August 2009, war es bereits einmal verschwunden. Sie erinnerte sich, als ob es gestern gewesen wäre, wie nervös und toggeligeplagt sie war – bis sie das Buch in der Ablage darüber entdeckte. Mein Gott, sie benötigte Tage und Unmengen an Melissentee, bis sie sich von diesem Schock erholte.

Esmeralda! So exotisch und geheimnisvoll der Name klingt, so abenteuerlich … «Ra-ta-ta-ta.» Das ohrenbetäubende und zwischendurch auch nervenaufreibende Rattern des Bohrhammers riss Sefa aus ihren alles andere als heiteren Gedanken. «Da kann man auf den Mond fliegen und Bücher elektronisch lesen und uns Bibliothekarinnen fast über Nacht in Luft auflösen, aber ein Loch in eine Wand bohren, ohne einen Hörsturz oder, was weiss ich, zu bekommen, nein, dazu ist man immer noch nicht in der Lage», brummte Sefa entnervt.

Nur einen schien der nervige Lärm nicht im Geringsten zu stören – Alex, der in den illustrierten Schunken «Der Glöckner von Notre Dame» versunken war. So sollte man noch lesen können, dachte Sefa wehmütig. Wenn sie ein Buch las, war sie oft nach zwei, drei Seiten in Gedanken bei der Frage, was sie morgen kochen oder wohin sie mit «Latzi» spazieren gehen könnte. Immer häufiger passierte es ihr, dass sie am Abend im Bett eine halbe Stunde las – und am anderen Tag beim besten Willen nicht mehr wusste, was sie gestern vor dem Schlafen gelesen hatte. Kein Wunder, musste selbst sie bei ihren ausgeliehenen Büchern dauernd die Ausleihe verlängern.

Sefa erinnerte sich, wie Esmeralda eines schönen Tages in Andermatt in die Schule gekommen war. Ihr Vater war Spanier und arbeitete als Koch in der «Sonne». Ihre Mutter stammte aus Irland, hatte knallrote Haare und brachte als Serviertochter im «Ochsen» das Unmögliche zustande, dass plötzlich wieder das halbe Dorf in dieser verrauchten Wirtschaft verkehrte. Esmeralda wurde schnell ihre beste Freundin und gab ihr nicht nur das Geheimnis preis, wie Kinder in den Bauch der Mütter kommen. Sie lehrte sie auch tanzen und dabei mit den Füssen auf den Boden stampfen, als gälte es, den Teufel das Fürchten zu lehren. Klammheimlich rauchten sie Zigaretten, die Esmeralda aus der krokodilledernen Handtasche ihrer Mutter entliehen hatte, wie sie sagte.

Just in diesem Moment schlich sich Alex zu ihr: «Sefa, jetzt habe ich eben im Buch von Esmeralda gelesen. Genau wie sie sah auch die fremde Frau aus.» «Jesses Gott», stöhnte Sefa, die Alex noch nie so gesehen hatte – weiss wie ein Leintuch.

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