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Baarer Psychiater spricht über die Vermächtnisse der Coronakrise: «Es ist schwierig zu sagen, dass alles gut wird»

Lev Libourkine leitet eine neue Praxis für ambulante Psychotherapie in Baar. Im Interview äussert er sich zu den Ansätzen der Praxis, Sitzungen über Videotelefonie und die Folgen der Coronakrise.
Der Facharzt Lev Libourkine in der Ameos Stadtpraxis in Baar.  (Bild: Matthias Jurt (13. Mai 2020))

Raphael Biermayr

Herr Libourkine, erwarten Sie im Kanton Zug andere Patientengruppen als anderswo?Ich glaube nicht, dass es in dieser Gegend völlig andere Krankheitsbilder gibt. Aber es gibt natürlich einen Einfluss des Umfelds auf die Menschen, zum Beispiel in Bezug auf ihr Denken und ihren Umgang. Der hier herrschende geistige Kontext ist einerseits die Zentralschweiz mit ihrer reizenden Landschaft, andererseits sind da die vielen Unternehmen.Was reizt Sie an der Leitung der neuen Praxis?Es reizt mich, meine beruflichen Erfahrungen einzubringen und mitbestimmen zu dürfen, wie die Praxis ausgerichtet ist und wie ambulante Psychiatrie erfolgreich funktionieren könnte. Darüber hinaus stellen wir gerade ein Konzept fertig, das eine neuartige, enge Zusammenarbeit mit Unternehmen beinhaltet. Unser Ziel ist es, weniger Arbeitsausfälle zu haben; die Menschen also entweder schneller zum Arbeitsplatz zurückzuführen oder eine Krankschreibung ganz verhindern zu können.Das klingt nicht neu.Die Idee ist nicht neu. Aber unser Modell gibt es im Kanton Zug in dieser Form noch nicht. Es handelt sich um eine Art Arbeitspsychiatrie, bei der wir mit den HR-Abteilungen und den betrieblichen Sozialdiensten im regelmässigen Austausch stehen.Kürzlich sagte eine Psychologin gegenüber unserer Zeitung, dass sie umstandshalber Sitzungen über Videotelefonie eingeführt hat und diese beibehalten will. Wie stehen Sie dazu?Es wird erforscht, ob jemand, der den Bildschirm immer ausschalten oder die Verbindung trennen kann, eine Sitzung schneller abbricht. Abgesehen davon ist nicht ganz klar, wie es mit Sitzungen über Video bezüglich der Finanzierung über die Krankenkasse aussieht. Zudem stellt sich die Frage, ob es für einen Arbeitgeber annehmbar ist, wenn ein Psychiater einen Angestellten über eine Distanz von 200 Kilometern krankschreibt, ohne diesen wirklich gesehen zu haben. Die Wirkung von Menschen beim Besuch in der Praxis liefert nämlich viele weitere wertvolle Informationen über seine Verfassung.Wie wirkt sich die Covid-19-Pandemie auf Ihre Arbeit aus?Wir sind auch für Medgate tätig und führen also auch telefonische Therapiegespräche. Dabei werde ich natürlich oft damit konfrontiert. Ein konkretes Beispiel: Eine Bankangestellte, die als Asthmatikerin der Risikogruppe angehört, hat Angst davor, was passiert, wenn alle an ihre Arbeitsplätze zurückkehren werden. Im 20 bis 30 Minuten dauernden Gespräch geht es darum, ihr diese Angst zu nehmen. Es ist allerdings schwierig, ihr zu sagen, dass alles gut wird und sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Denn wir wissen ja alle nicht, wie sich die Situation entwickeln wird.Das Abstandhalten war und ist das Gebot dieser Pandemie. Was macht das mit den Menschen?Social Distancing ist nicht so leicht, denn das wirkt sich stark auf die Psyche aus. Die Aussage des Staats, dass körperliche über der geistigen Unversehrtheit stehen würde, ist heikel. Was mit dem Geist passiert, hat den Staat in dieser Situation nicht so sehr interessiert. Ich kann nicht sagen, ob das richtig oder falsch ist. Aber als Psychiater kann ich sagen, dass das Leben nicht nur aus dem Körper bestehtDer Staat greift derzeit ungewohnt stark in das Leben der Menschen ein. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Ich sage den Patienten, dass es nicht nur um Körperliches geht, und zeige ihnen ihre geistigen Ressourcen auf. Diese überlässt der Staat jedem Einzelnen. Die Lockerungsmassnahmen werden ja nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf politischer Grundlage getroffen.

Berufskollegen von Ihnen sprechen davon, dass wegen der Folgen der Coronamassnahmen die Zahl der Selbstmorde wohl zunehmen wird. Sind solche Aussagen seriös?

Würde ich sagen, sie wären nicht seriös, würde ich mich über diese Kollegen erheben. Das will ich nicht. Ich persönlich denke nicht, dass es mehr Suizide geben wird. Aber das bedeutet nicht, dass ich recht habe. Es geht ohnehin um etwas anderes. Depressive leiden nicht unter der Depression, sondern darunter, dass psychische Erkrankungen vom Umfeld nicht akzeptiert werden. Der Frontmann der Band Rammstein sagte: «Ich bin nicht krank, die Welt ist krank.» Das trifft auf die Situation während der Pandemie zu. Und das bedeutet unter anderem, dass die seelisch Kranken und die anderen sich näherkommen.

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