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Obwalden

Aus der Enge hinausführen ins Freie

Am Seeweg bei der Badi Sachseln treffen Spaziergänger auf einen Findling. Eingraviert stehen die vier Zeilen: «Dem Wanderer Fridolin Stocker. 1898–1964». Warum dieser Stein für einen Zuger Pädagogen im Obwaldischen? Eine Spurensuche.
Der Findling bei Sachseln erinnert an Fridolin Stocker. (Bild: PD)

Carl Bossard

Wie angewurzelt blieb ich vor diesem Findling stehen. Zweimal musste ich lesen. «Fridolin Stocker» stand in Grossbuchstaben geschrieben. Mein Primarlehrer aus der 3./4. Klasse! Wie aber kommt er zu diesem Gedenkstein?

Der Zusammenhang ergibt sich schnell: Steckenpferd unseres 3./4.-Klassenlehrers waren Wanderungen. Er galt als gelber Wanderpionier. «Chum Bueb und lueg dis Ländli ah!», rief er uns jeweils zu, wenn er uns 40 Knaben hinausführte. Und genauso tönte es ab 1961 jeden Freitag auf Radio Beromünster. Fridolin Stocker war Initiant und Moderator der beliebten Radiowanderungen – zusammen mit dem Obwaldner Albert Rohrer (1919–2007). Hunderte, manchmal gegen 1500 Naturfreunde durchstreiften Sonntag für Sonntag unser Land. Die «Rotsocken», wie man die Wandervögel bezeichnete, folgten ihren Routenvorschlägen und den gelben Wegweisern.

Kein Wandern in Staubwolken und Abgasschwaden

Diese freundlich leuchtenden Schilder mit der schwarzen Schrift gehen ebenfalls auf die Initiative eines Primarlehrers zurück, auf Johann Jakob Ess aus Meilen. Die Idee kam ihm bei einer Schulreise über den Klausenpass. Seine Kinder mussten auf der gefährlichen Autostrasse wandern – inmitten von Staubwolken und Abgasschwaden. Benzindüfte galten ja als Parfüm des Fortschritts.

Ess wollte nun Wege für Wanderer markieren. Dazu gründete er Mitte der 30er-Jahre einen nationalen Verband. Langsam entstand ein schweizweites Wanderwegnetz. Heute stehen zwischen Genf und Romanshorn, zwischen Basel und dem Puschlav rund 50’000 solcher Wanderwegweiser. Sie signalisieren über 65’000 Wegkilometer.

«Hinaus, hinaus ins Freie!»

Der «Wandervater» Fridolin Stocker und sein Obwaldner Kollege Albert Rohrer, der «Wanderpapst», machten das Wandern populär. Beide publizierten Wanderbücher und lockten die Leute an die frische Luft. Auch uns Schüler führte Lehrer Stocker immer wieder nach draussen. «Hinaus, hinaus ins Freie! – So werden eure Gedanken frei.» Mit diesem Satz lotste uns der passionierte Wanderer in die Natur – während vieler Stunden. Das Fach Natur- und Heimatkunde lebte er mit allen Fasern seines Herzens. Da war nichts Papierenes, da gab es keine Arbeitsblätter. Nein, da gab es unvergessliche Momente des Staunens und Verstehens. Im Schulzimmer zeichneten und schrieben wir auf, was wir Neues vernommen hatten. Er kontrollierte und korrigierte, erklärte und vertiefte und machte uns so zu Verstehenden.

Fridolin Stocker, welcher der Heimat und der Natur verbunden war, war wertkonservativ und mit seiner nonkonformistischen Haltung vielleicht sogar progressiv. Rastlos war er tätig, unermüdlich unterwegs. Bis zuletzt. Stockers letzte Radiowanderung mit rund 1000 Wanderfreunden führte ins Obwaldnerland: von der Melchsee-Frutt über das Älggi, Mittelpunkt der Schweiz, ins Kleine Melchtal und an den Sarnersee. Es war kurz vor seinem unerwarteten Tod. Der Kalksteinfindling am Seeweg bei Sachseln erinnert an den Wanderer Fridolin Stocker.

Aus der Enge hinausführen

Gerne erinnere ich mich an unseren Lehrer «Stöcki». Wie sehr er das Draussen liebte, zeigte sich auch in der Aufsatzstunde. Beim Texten ginge es wohl besser, wenn wir vorher etwas gingen, meinte er augenzwinkernd. Und so führte er uns vor Aufsätzen jeweils hinaus vors Schulhaus. Hier gab er uns das Thema. Spazierend und sprechdenkend formulierten wir auf dem Pausenplatz unsere Ge[h]danken.

Das Schreiben ging nachher wahrlich leichter. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hätte uns vielleicht zugeflüstert: «Trau keinem Gedanken, den du nicht im Freien ergangen hast.» Denn der wandernde Denker wusste: «Das geklemmte Eingeweide verrät sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verrät.» Aus dieser Enge wollte uns Fridolin Stocker hinausführen. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.

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