Raphael Zemp
Jäger sind eines mit Bestimmtheit nicht: ungeduldig. Eine gefühlte Ewigkeit ist es her, seit Peter Küenzi, Präsident der Revierjagd Luzern, sich von einem Jägerkollegen verabschiedet hat, mit einem «Weidmannsheil», dem Wunsch nach «einem schönen Anblick» und einem sanften Schulterklopfer. Seit er im Geländewagen auf engen Strässchen gen Pilatus hinauf gekurvt ist, auf über 1000 Meter über Meer. Seit er sich dort Büchse und Rucksack umgehängt und nach einem kurzen Marsch um 5.20 Uhr schliesslich seinen Zielort erreicht hat: den Hochsitz auf der Gibelegg, mitten im Revier der Jagdgesellschaft Kriens-Grüebli.
Seither warten wir. Starren in eine platte, schwarz und tiefgrau gestreifte Dunkelheit. Der Waldboden ist feucht. Doch durch meine Nasenlöcher strömt bloss Kälte, geschmackslos. Küenzi hat sich auf dem Hochsitz eingerichtet, das Gewehr zwischen den Beinen eingeklemmt, gibt keinen Mucks von sich. Auch das nervöse Schnappen des Kameraverschlusses ist nach einer kurzen frühmorgendlichen Fotosession verstummt, der Fotograf balanciert nun lautlos auf dem einbeinigen Jagdhocker am Fuss des Hochsitzes.
Im Visier: der grösste Bewohner der hiesigen Wälder
Wir warten auf einen Waldbewohner, der sich auch hier am Pilatus immer öfter zeigt: der Rothirsch. Männliche Tiere können bis zu 180 Kilogramm schwer werden, sie sind die grössten Wildtiere der hiesigen Wälder – falls sich nicht gerade ein Bär hierher verirrt hat. Gross sind auch die Schäden, die Rotwild laut Küenzi anrichten kann, falls deren Bestände zu gross würden. Anders als in gewissen Nachbarkantonen habe man die Situation aber im Griff – «auch weil wir Luzerner Jäger laufend regulieren», ist der 60-jährige Krienser überzeugt. Alleine heuer sind im Kanton Luzern 150 Tiere zum Abschuss freigegeben (siehe Statistik), über 100 schon erlegt.
Noch wird aber nicht geschossen, sondern gewartet und gelauscht. Wer seine Ohren spitze, könne einiges aus den Tiefen des frühmorgendlichen Waldes vernehmen, meinte Küenzi kurz vor Anbruch des Ruheregimes. In den ersten Augenblicken allerdings ist die Stille absolut. Aber dann: ein Bächlein gurgelt leise, die Autobahn im Talboden rauscht fahl und Flugzeuge brummen über die Baumwipfel hinweg. Ab und an schlagen kleine Ästchen auf dem Boden auf. Anzeichen von Tieren? Keine – bis plötzlich ein Vogel in Stille kreischt. Dann herrscht wieder Ruhe.
Und Kälte. Sie kriecht unter Jacke und Wollpulli, krallt sich in den Rücken, umklammert Knie und Oberschenkel, brächte die Nackenhaare zum Stehen – wären sie nicht zu lang. Hätte ich doch meine Abneigung gegen lange Unterhosen bereits überwunden! Denke ich und kauere mich weiter zusammen, verkrümme mich zu einem erbärmlichen Häufchen. Selbst Hirsche würden mich belächeln. Anders als Küenzi. Der sitzt noch immer regungslos auf seinem langbeinigen Metallgestell, ist sich als ehemaliger Grenadier und Skirennfahrer die Kälte gewohnt, wird in ein paar Stunden schwärmen von der Winterfuchsjagd bei eisigen Temperaturen und Vollmond – aber auch gestehen, zumindest «ein wenig» gefroren zu haben.
Wenigstens die Hände reiben? Nein, zu laut. Zu gross die Gefahr, dass die scheuen Huftiere, die erst vor etwa dreissig Jahren wieder im Kanton Luzern heimisch geworden sind, auf uns aufmerksam werden. Klammen Fingern zum Trotz, es gilt auszuharren. Dann und wann knurrt ein Magen, grummelt ein Darm. Plötzlich schleift ganz sanft Metall auf Metall. Gönnt sich Küenzi etwa einen heissen Kaffee aus der Thermosflasche? Ein Halsrecken später ist klar: Nein, er hat lediglich den Feldstecher am Metall-Hochsitz befestigt. Kälte hin, Hunger her, es gilt durchzuhalten. Vor der Dämmerung sei es am dunkelsten, erinnere ich mich an eine Tattoo-Weisheit. Aber auch an meine Jahren als Ministrant. Auch damals galt: still sitzen um jeden Preis.
Höchster Luzerner Jäger jagt am liebsten Gämse
Um was Küenzis Gedanken wohl kreisen? Um jene Rothirschkuh, die er heute Morgen zu schiessen gedenkt? Er, der eigentlich lieber Gämse jagt, weil «taktisch anspruchsvoller». Zwei Stiere und eine Kuh haben seine Jägerkollegen in diesem Revier schon erlegt. Und im letzten Jahr war auch er erfolgreich gewesen: Vier Stunden und eine Seilwinde habe es gebraucht, um den kapitalen Hirsch zu bergen…
Die Jagd sei für ihn eine Möglichkeit, eins zu werden mit der Natur, abzuschalten, «den Kopf zu lüften». Meiner hingegen füllt sich – mit immer wilderen Gedanken. Bleiben die Hirsche wegen mir fern? Haben sie meinen x-ten Gähner gehört? Den Schweiss gewittert, den mein Pulli bei der Veloanfahrt aufgesogen hat? (Unglaublich empfindlich sei der Geruchssinn von Rotwild, wird später ein gestandener Jäger bestätigen.)
Es tagt langsam, aus der Dunkelheit tritt allmählich der Wald hervor. Auch wenn noch alles in Grau getaucht ist, sind nun Farne von Moosen zu unterscheiden, helle Flechten von spröden, aufgerissenen Baumrinden. Sind das Kuhglocken? Ja tatsächlich, in der Ferne bimmeln bereits erste Kühe auf der Weide. Hier fiept ein Vögelchen, dort nölt ein anderes – und dann läuten Kirchenglocken bereits den Tagesanbruch ein – und damit die entscheidende Phase für Jäger Küenzi. Nun ist die Wahrscheinlichkeit am grössten, einen Rothirsch zu erspähen.
«Esch guet.»
Peter Küenzi
In immer kürzeren Abständen greift er zum Feldstecher, schwenkt ruckartig nach rechts, wo sich ganz in Nähe ein wildes Vogelstimmen-Gewitter entlädt, das aber ebenso rasch verklingt und wieder der Stille weicht. Mit einem knappen «esch guet» beendet Küenzi bald darauf die Mission Rothirschjagd – zumindest vorläufig. Nichts ist geworden mit seiner Hirschkuh. Aika, Heida und Faja, die drei Jagdhunde, sind die einzigen Tiere, die wir an diesem Morgen zu Gesicht bekommen – von Vögeln und Kühen abgesehen. Ungeduldig streichen sie zwischen Jägerbeinen umher, die sich immer zahlreicher einfinden vor der «Bächhütte».
Bald ist es 9 Uhr und die Jagdgesellschaft komplett versammelt. Man schlürft Pulverkaffee, wischt Gipfeli-Brösmeli aus den Mundecken. «Kuh und Kalb», hat einer gesehen. Eine Baumgruppe aber sei in der Schusslinie gewesen. Ein anderer berichtet von einem «Sechser»-Rothirschen, den er erspäht – und verschont habe, wollte man doch ein weibliches Tier schiessen. Trotz diverser «Anblicke» wird bald klar, an diesem Morgen ist die Jagdgesellschaft Grüebli in corpore leer ausgegangen.
«Jagen ist kein Hobby, sondern eine Passion»
«Auch das gehört dazu», sagt Küenzi unaufgeregt und besonnen, wie man es von einem Jäger erwartet, der Inhaber einer Versicherungsagentur ist. Jagen das sei viel mehr, als bloss den Abzug zu betätigen, ein Tier zu erschiessen. Jagd heisse, die Natur lesen und schätzen zu lernen, eins zu werden mit ihr. «Das ist kein Hobby, sondern eine Passion.»
Für sie brennt Küenzi schon seit über zwanzig Jahren, seit seiner ersten Treibjagd. Für sie hat er einiges investiert, vor allem Zeit und Engagement. Aus einer nicht jagenden Krienser Familie stammend, hat er sich sämtliches Wissen selber aneignen müssen. Hat an seinem Plan, Jäger zu werden, festgehalten, auch als sein Umfeld diesen mit Verwunderung bis Missbilligung quittierte. Hat nicht aufgegeben, als er beim ersten Versuch durch die Jagdprüfung rasselte.
Und so wird Küenzi auch weiterhin dieser Leidenschaft viele, oft stille und einsame Stunden im Wald opfern. Die manchmal auch von Erfolg gekrönt sind – allerdings nicht an diesem Tag. Die anschliessende Treibjagd verlief für die «Grüebli»-Jäger ebenfalls erfolglos. Auch das ist Jagd.