notifications
Uri

Alte Kritzeleien zeugen von politischen Konflikten

Dass kleine Alpenübergänge für die Geschichte der Berggebiete genauso bedeutsam sind wie der Furka- oder Gotthardpass, beweist der Lolenpass. Denn wer genauer hinschaut, erhält einen Einblick in längst vergangene Zeiten auf den Urner Alpen.
Dieser Zeichenstein ist auf der Alp Oberlolen zu finden. Die in den Fels gemeisselten Linien sind mit Kreide nachgezogen worden, um sie besser sichtbar zu machen. (Bild: Fritz Haase, Andermatt, 1970

Martin Schaffner*

Uri ist zweifelsohne ein Gebirgskanton. Ebenso gut kann man ihn aber auch als «Passkanton» bezeichnen – denke man an die fünf grossen Alpenübergänge: Susten, Furka, Gotthard, Oberalp und Klausen. Wer von Pass- statt Bergkanton spricht, verschiebt seine Perspektive. So bestimmen nicht mehr die hohen Gebirgsketten, die das Reuss- und das Urserntal umschliessen, das Blickfeld, sondern die Übergänge, welche die Täler öffnen.

Neben den grossen, für den modernen Verkehr erschlossenen Pässen, führen aber eine Reihe von weiteren Pässen aus Uri heraus, die als Fusswege angelegt sind. Als Beispiele im Urserngebiet sind der Lolenpass auf 2399 Metern über Meer, der Pass Maighels, der Unteralppass oder der Sellapass auf 2701 Metern über Meer zu erwähnen.

Geschichte kleiner Pässe ist noch kaum erforscht

Im Gegensatz zu den grossen Ost–West- und Nord–Süd-Verbindungen ist ihre Geschichte jedoch kaum erforscht, obwohl sie in jeder Hinsicht spannend ist. Als Beispiel ist der Lolenpass zu nennen. Dass dieser eine Geschichte hat, entdeckt man spätestens, wenn man nach einem steilen Anstieg aus der Unteralp auf der Höhe von 2340 Metern über Meer im Gebiet des Stafels Ober Lolen flacheres Gelände erreicht. Denn nach wenigen Schritten links vom Weg in nördlicher Richtung stösst man auf die Mauerreste einer Alphütte. In unmittelbarer Nähe des zerfallenen Gebäudes liegen viele grössere und kleinere Felsbrocken sowie Steinplatten aus Gneis. Auf den zweiten Blick sind auf einigen Platten die eingekratzte Jahreszahl 1725 und die Buchstaben «FFR» sowie 14 weitere Zeichen zu erkennen (siehe Bild). Benno Furrer hat das im Buch «Die Bauernhäuser des Kantons Uri» 1985 dokumentiert.

Zeichensteine finden sich aber auch anderswo in Uri sowie in der ganzen Schweiz. Zwar sind diese umfangreich erfasst, aber ihre Bedeutung ist nach wie vor nicht immer klar. Das gilt auch für die Zeichen am Lolenpass. Georg Kaufmann, Autor des Buchs «Hinteralp und Gwüest. Siedlungsgeschichte der Göscheneralp» hat sie untersucht und versucht, ihren Sinn zu deuten. Überzeugend rückt er die Jahreszahl 1625 in den Kontext der politischen Konflikte, die als «Bündner Wirren» bekannt sind. Uri wollte sich damals aus den Kämpfen heraushalten und sicherte seine Grenze gegen Bünden. «Gewiss wurde neben dem Oberalppass auch das Einfallstor des Lolenpasses bewacht», so Kaufmann. Vielleicht sei es eben nicht «friedliches Alppersonal», sondern eine «militärische Mannschaft» gewesen, die sich 1625 hier verewigt habe, schreibt Kaufmann. Die Buchstaben ihrerseits ordnet er den Namen von Urschner Geschlechtern zu – «FFR» für Franz Felix Regli oder Russi.

Zeichen markieren, wer vor Ort das sagen hat

Was sagen die Zeichen am Ober-Lolen-Stafel weiter über die Geschichte des Lolenpasses aus? Denn es ist kein Zufall, dass sie gerade hier, am Übergang vom Unteralptal ins Val Maighels angebracht wurden. Was immer sie im Einzelnen bedeuten, die Zeichen markieren, wer hier das Sagen hatte.

Um das zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass der Pass nicht nur die Grenze zwischen Uri und Graubünden beziehungsweise Ursern und dem Tavetsch bildet, sondern auch die Grenze zwischen wertvollen Weidegebieten ist. Die Weiden am Lolen galten als besonders ertragreich, weshalb die Unteralp Genossenschaft in den 1920er-Jahren dort eine Alphütte erbaute. Heute ist den wenigsten Wanderern bewusst, dass sie auf dem Lolenpass mit der Kantons- auch eine Weidegrenze überschreiten. Früher, als auf beiden Seiten des Passes geweidet wurde, war das anders.

Fremdes Vieh auf eigenen Weiden sorgt für Streit

Die Grenze war wichtig und immer wieder Anlass für Auseinandersetzungen. So kam es vor, dass sich Vieh von einem Weidegebiet in das andere verlaufen hatte. War das der Fall, wurde Protest eingelegt und die Behörden mussten dafür sorgen, dass die Hirten die Grenze zwischen den Weidegebieten respektierten. Im Talarchiv in Andermatt sind solche Fälle dokumentiert. So schrieb der Präsident der Gemeinde Tavetsch im Juli 1924 an den Korporationsrat in Andermatt: «Uns wurde auch mitgeteilt, dass unsere an Ihrem Gebiet angrenzende Alpen hie und da durch Urner Vieh beweidet werden. Wir wissen, dass es nicht gut möglich ist, bei aneinander angrenzenden Alpen Vieh gerade strikt auf dem eigenen Boden zu halten, doch sollte dies unser und Ihrerseits möglichst vermieden werden, um die beidseitigen guten nachbarlichen Beziehungen nicht zu stören.»

Manchmal wurde der Ton auch schärfer. So schrieb der Alppächter auf der Alp Tschamutt im Juli 1944 an den Gemeindepräsidenten von Andermatt: «Entschuldigen Sie, wenn ich Sie stören muss. Die letzten Tage sind die Urner mit Ihrem Vieh auf den Alpen von der Gemeinde Tavetsch gewesen – sogar den ganzen Tag, das habe ich selber gesehen. Wenn das nicht bessert, gibt es nichts anderes als bestrafen, oder dass wir das Vieh nehmen.»

Gelegentlich gerieten die Älpler aus dem Tavetsch und ihre Kollegen aus der Unteralp aneinander, und es kam zu einem handfesten Streit.

Inschriften sind ein Indiz für Auseinandersetzungen

Die Grenzen zwischen Weidegebieten dürfen nicht als eindeutig gezogene Linien aufgefasst werden. Vielmehr handelt es sich um Räume, in denen immer wieder klargestellt werden musste, ab wo ein Weidegebiet beginnt. Die nicht restlos entzifferten Zeichen auf den Felsplatten am Lolenpass markieren wohl solche Ansprüche und sind damit ein Indiz für Auseinandersetzungen.

Auch wenn noch Vieles unerforscht ist und vielleicht im Dunkeln bleibt – eines macht der Gang über den Lolenpass klar: Für die Geschichte der alpinen Gebiete und ihrer Bevölkerungen sind die heute wenig begangenen, kleineren Pässe ebenso bedeutsam wie die grossen, an europäischen Transitrouten gelegenen Alpenübergänge.

* Martin Schaffner ist emeritierter Professor der Universität Basel und hat für die Korporation Ursern das Talarchiv aufgearbeitet.

Kommentare (0)