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Kanton Zug

Nebst Horrorgeschichten auch positive Ereignisse aus Kinderheimen: Dieses Buch arbeitet die Zuger Fürsorge-Geschichte auf

2017 beschloss der Zuger Regierungsrat, das Kapitel der Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen auch im Kanton aufzuarbeiten. Nun liegt der Forschungsbericht als Buch vor. 

Trigger-Warnung: Die folgende Schilderung enthält physische Gewalt.

Für Rita Z. (Name geändert) war ein Teil ihrer Kindheit alles andere als unbeschwert. Sie war Primarschülerin, als sie in den 1960er-Jahren ins Kindersanatorium Theresiaheim nach Unterägeri geschickt wurde. Der Grund ist bis heute unbekannt. Im Kinderheim erlebte sie einen eintönigen und streng christlichen Alltag, frei von Spiel und Spass.

Ein Ereignis aus dieser Zeit hat sich bei Rita Z. besonders eingebrannt. So drückte eine der betreuenden Klosterfrauen ihren Kopf so lange in eine Suppe, die sie nicht essen wollte, bis sie sich auf den Fussboden übergab. Diesen musste sie selbst putzen, während die Klosterfrau immer wieder ihren Kopf mit dem Fuss ins Erbrochene drückte.

Geschildert wird diese Geschichte im kürzlich erschienenen Buch «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen». Es handelt sich dabei um den Forschungsbericht über die historische Aufarbeitung der sozialen Fürsorge im Kanton Zug von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

Ein Bild der Pflegerinnenschule Liebfrauenhof. Auch sie wurden zur Betreuung von Menschen in sozialer Fürsorge eingesetzt.
Bild: Bild: Kanton Zug/Archiv

«Bashing» von Institutionen verhindern

Das Cover des Buches will nicht so recht zur eingangs geschilderten Geschichte passen. Darauf abgebildet sind lachende Kinder, eine Krankenschwester trägt ein fröhlich dreinblickendes Baby auf dem Arm. Doch auch das ist Teil der Realität der Fürsorgemassnahmen, wie die wissenschaftliche Prüfung der Forschungsgruppe nun belegt.

Der Forschungsbericht der Beratungsstelle für Landesgeschichte in Buchform. 
Bild: Bild: Matthias Jurt (Zug, 17. November 2022)

So wird nicht nur von den zahlreichen Horrorgeschichten der sozialen Fürsorge – wie etwa erzwungene Adoptionen, Sterilisationen, Kastrationen oder Abtreibungen – berichtet, sondern auch von positiven Ereignissen und Erfahrungen.

Damit habe man das «Bashing» gewisser Institutionen wie Kirche oder Kinderheimen vermeiden und einen Kontrast zu den bisher umgesetzten Forschungs- und Aufklärungsprojekten setzen wollen, heisst es. Diese würden sich grösstenteils auf die «zu Recht kritisierten Schattenseiten der Fürsorge» beschränken.

Man wollte keine «Kupferplatte irgendwo an einer Fassade»

Der Forschungsbericht sei Symbol der Anteilnahme und der Solidarität mit allen betroffenen Menschen, so Andreas Hostettler, Vorstehender der Direktion des Innern. Er sagt das an der Pressekonferenz über das Forschungsprojekt, zu der am Donnerstagvormittag Medienschaffende ins Regierungsgebäude geladen wurden. «Dieses Symbol soll keine Kupferplatte irgendwo an einer Fassade sein», so Hostettler.

Andreas Hostettler, Vorstehender der Direktion des Innern.
Bild: Bild: Stefan Kaiser/Zuger Zeitung

Eine Kupferplatte ist es nicht geworden, dafür ein gut 530 Seiten umfassendes Buch, hochwertig gedruckt, fadengebunden. Dem voran gingen die 2013 auf Bundesebene beschlossenen Massnahmen für die Wiedergutmachung von Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. 2017 entschied der Zuger Regierungsrat, das Thema auch im Kanton umfangreich aufarbeiten zu wollen und hiess 2018 einen Lotteriefondsbetrag von 400'000 Franken gut. Hinzu kamen 490'000 Franken durch ein Fundraising.

Ende 2018 wurde schliesslich der Forschungsauftrag an die Beratungsstelle für Landesgeschichte (BLG) erteilt, rund ein Jahr später starteten die Arbeiten mit dem sechsköpfigen Forschungsteam. Diese arbeitete sich durch etliche Zuger Archive und sammelte so Daten aus rund 70 Jahren Schweizer Zeitgeschichte mit Fokus auf die gesamte Fürsorgelandschaft.

Dazu zählen nebst den bereits bekannten und negativ behafteten Zwangsmassnahmen auch materielle Unterstützungs- und Versicherungsleistungen, Beratungsangebote und Vermittlungsdienste sowie ambulante und stationäre Betreuungen auf freiwilliger oder behördlich verordneter Basis.

Gewonnene Erkenntnisse seien auch für Zukunft relevant

Gleich die ersten rund 60 Seiten sind dem eigentlichen Grund für die Arbeiten gewidmet: den Betroffenen. So schildern diese ihre teils grausamen und erschütternden, aber auch positiven und erfreulichen Erfahrungen in Bezug auf fürsorgliche Massnahmen. Weitere Kapitel widmen sich den rechtlichen Grundlagen, den Sozialversicherungen, der karikativen Aktion und weiterem.

Mit dem Forschungsbericht solle nicht nur die Vergangenheit aufgearbeitet, sondern auch ein wichtiger Impuls für die Zukunft gesetzt werden, so Hostettler.

«Mit dem Bericht sind die Voraussetzungen geschaffen, dass dieses Thema auf der politischen Agenda bleibt und in der Öffentlichkeit auch künftig diskutiert, jüngeren Generationen zugänglich gemacht und somit im weitesten Sinne von der Gesellschaft verarbeitet werden kann.»

Denn die aus der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse seien auch für die heutige und künftige «Fürsorgelandschaft» von Relevanz.

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