Christopher Gilb
Christopher Gilb
Christopher Gilb
Sie hängen in dem Raum, wo die Zuger Strafrichter heute ihre Kaffeepause verbringen: die acht Skizzen des bedeutenden Zuger Malers Hans Potthof. Zu sehen sind verschiedene Teilnehmer einer Strafgerichtsverhandlung im Juli 1939: Staatsanwalt, Ständerat Dr. Iten, (unten, Mitte) das Gericht unter Vorsitz von Dr. Wettach (links), die Eltern des 1933 bei Baar ermordeten Taxi-Chauffeurs Werner Kessler, den Verteidiger Dr. Egli und Paul Irniger zwischen zwei Polizisten sitzend (rechts). Der 26-Jährige wurde vom Gericht des Mordes für schuldig befunden und am 25. August, also am Sonntag vor 80 Jahren, mit einer aus Luzern geliehenen Guillotine hingerichtet. Es war die zweitletzte Strafgerichtsverhandlung in der Schweiz, bei der die Todesstrafe ausgesprochen wurde.
«Eigentlich hat man den Eindruck, dass die Todesstrafe in der Schweiz schon vor Ewigkeiten abgeschafft wurde, doch wenn man diese Skizzen betrachtet, wird man daran erinnert, dass sie noch vor 80 Jahren in Zug Anwendung fand», sagt Carole Ziegler, heute Präsidentin des Zuger Strafgerichts. Wann die Skizzen ihren Weg vom Gerichtsarchiv ins Pausenzimmer gefunden haben, wisse sie nicht mehr genau. «Aber sie zeigen einerseits unsere Vorfahren am Strafgericht und anderseits einen sehr speziellen Fall. Deshalb hängen sie nun hier.» Der ehemalige Präsident des im gleichen Gebäude befindlichen Kantonsgerichts, Beat Furrer, nennt die Skizzen gar «ein echtes Stück Zuger Geschichte».
Ein Leben auf der Flucht
Pil Crauer hat in seinem 1983 erschienenen Buch «Das Leben und Sterben des unwürdigen Diener Gottes und mörderischen Vagabunden Paul Irniger» dieses Stück Geschichte mit Gerichtsakten und Erinnerungen von Zeitzeugen aufgearbeitet. Der Leser begegnet einem eigentlich intelligenten und charmanten jungen Mann, dem es aber nie gelang auf den rechten Weg zu kommen. Und der sich mitunter gerne in die Opferrolle begab. Geboren wurde Irniger 1913 in Goldau. Der Vater starb früh, die Mutter heiratete erneut und kaufte mit ihrem Mann ein Gasthaus. Doch der Kanton habe ihnen das Wirtepatent verwehrt, nach Irnigers Interpretation, der Beginn des finanziellen Elends. Irnigers Mutter wurde eines Tages wegen Betrugs verhaftet. Der Sohn kam zu verschiedenen Pflegeeltern. Seine Herkunft, so stellte er es da, verfolgte ihn: Der Pfarrer, der ihm unter anderem wegen der delinquenten Mutter die Erstkommunion verweigerte oder die Mitschüler, die ihn auslachten, weil er keine Eltern habe. So habe er dann im Geschäft der Pflegemutter auch geklaut, um mit den Schleckereien seine Beliebtheit in der Schule zu fördern.
1926 dann kam der Protagonist ins Kinderheim Walterswil oberhalb von Baar. Eine Schreinerlehre, die er danach begann, brach er ab, genauso wie die Zeichnerlehre, bei der er sich beim Blick ins Notenheft hatte erwischen lassen. Im Hotel Beau-Rivage in Interlaken, wo er danach arbeitete, legte er einen Brand und verschwand. Irniger zog herum, arbeitete mal hier mal dort, begann mal diese mal jene Betrügerei und wurde immer wieder festgenommen unter anderem wegen Vagabundierens oder Passfälschung.
Paul Irnigers drei Morde
Dann, am 5. Dezember 1933 brachte Irniger in der Nähe von Baar den Taxichauffeur Werner Kessler um und erbeutete 60 Franken. Kurz darauf hätte er geschnappt werden können, doch wie es noch öfters vorkommen sollte, liess sich die Staatsgewalt von Irniger täuschen: In Luzern war ein zur Beschreibung des Täters passender Mann beobachtet worden, wie er eine Pistole gekauft hatte. Schnell war Inrnigers Adresse ausfindig gemacht. Doch der behauptete zur Tatzeit, im Kino gewesen zu sein und ging dann auch noch persönlich auf die Wache, um seine Pistole zu zeigen, bei der sich beim Hantieren versehentlich ein Schuss gelöst habe. Der Wachtmeister schaute sich die Waffe erst gar nicht an, der älter und reifer wirkende junge Mann beeindruckte ihn.
Weil er eine Witwe um ihr Erspartes gebracht hatte, kam Irniger dann bald darauf doch ins Zuchthaus, brach aber aus. Das es sich bei ihm um den Mörder von Baar handelte, darauf kam niemand. Eine Zeit lang tarnte er sich als Priester und dies so glaubhaft, dass er Messen las und sogar einmal mit dem Bischof dinierte. Nachdem er mehrere Einbrüche verübt hatte, wurde er 1937 in Rapperswil verhaftet und auf den Polizeiposten gebracht. Dort erschoss Irniger einen Polizisten und floh erneut. Bei der anschliessenden Verfolgungsjagd brachte er einen seiner Verfolger um. Im April 1938 wurde er für die zwei Morde in Rapperswil in St. Gallen zum Tode verurteilt. Die Strafe jedoch wurde vom Grossen Rat der Stadt in eine lebenslange Zuchthausstrafe umgewandelt.
Dazu muss man wissen, dass bis anhin das Strafrecht Sache der Kantone war. Doch am 3. Juli des selben Jahres stand eine wichtige Abstimmung an, jene über die Einführung eines nationalen Strafrechts, das keine Todesstrafe mehr vorsah. Die Abstimmung hatte Einfluss auf den Entscheid der St.Galler Politiker, es ging dabei aber auch um moralische Überlegungen: dass keiner das Recht habe einem anderen Menschen, dass Leben abzusprechen, dass Irnigers Taten auch aus dem Kontext «seiner erblichen Belastung» zu sehen seien. Mit 54 Prozent wurde das Strafrecht dann national angenommen, trat aber erst 1942 in Kraft und da Irniger, was inzwischen bekannt war, ein drittes Mal gemordet hatte, musste er auch noch in Zug vor Gericht.
In Zug akzeptierte er das Urteil
Was denkt die heutige Strafgerichtspräsidentin über die Verhandlung damals? Sie kenne die Akten nicht, sagt Carole Ziegler, «aber mein Eindruck von einem anderen Zuger Fall aus dieser Zeit ist, dass die Verfahren relativ ähnlich wie heute abliefen: Es gab eine Strafuntersuchung, Pflichtverteidiger und Gutachten.» Gerade der Bereich der psychiatrischen Begutachtung habe sich aber enorm entwickelt, merkt sie an. «Die wissenschaftlichen Standards sind sehr hoch.» Damals, so der Eindruck wenn man Crauers Buch liest, gingen die Psychiater teils wenig professionell vor. So wurde der Gesichtspunkt der Epilepsie nicht einbezogen, obwohl Irniger als Kind an dieser Krankheit litt. Zudem fiel der Gutachter dadurch auf, dass er Zeugen verfängliche Fragen stellte – bei unangekündigten Besuchen um Mitternacht.
Mit der Mehrheit von fünf von sieben Richtern wurde Irniger für den Mord in Baar zum Tode verurteilt. Weil er das Urteil überraschend akzeptierte, stellte sich in Zug die Frage der Begnadigung nicht. «Bin ich zum Entschlusse gekommen, die schwere Verletzung göttlicher Gesetze durch den Tod zu sühnen», so Irnigers Worte. Was würde einer wie er heute für eine Strafe erhalten? «Bei einem dreifachen Mord wäre, vorausgesetzt der Täter wird als schuldfähig angesehen, sicher die lebenslange Freiheitsstrafe ein Thema – allenfalls mit anschliessender Verwahrung», erklärt Carole Ziegler.
Doch damals musste Irniger als Konsequenz sein Leben lassen. Er wurde am 25. August 1939 hingerichtet. Von der Guillotine wurde nur noch einmal Gebrauch gemacht. Im Oktober 1940 wurde in Sarnen der Mörder Hans Vollenweider hingerichtet.