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Luzern

Als der Pilatus noch schrecklich war

Vor genau 500 Jahren, als die Luzerner Katholiken vor der Besteigung ihres Hausberges noch in Ehrfurcht erstarrten, wagte sich Reformator Vadian zum Pilatussee. Die Exkursion gilt als erste Besteigung eines Schweizer Berges zu wissenschaftlichen Zwecken.
Der Pilatus, Hausberg der Luzerner, präsentiert sich auch heute noch oft in mystischer Stimmung. (Symbolbild: Roger Grütter)

Urs-Ueli Schorno

Es war vor allem eine Legende, welche die Luzerner Stadt- und Landbewohner bis Ende des 16. Jahrhunderts von ihrem Hausberg fernhielt: Diejenige des römischen Statthalters Pontius Pilatus, dessen Geist in einem Bergsee bei der Oberalp Unwetter heraufbeschwört. Nämlich dann, wenn man seine Totenruhe störe. Starkregen, Blitz und Hagel sollen ausbrechen, wenn ein Gegenstand in den See hineingeworfen wird. Oder wenn beim See laut sein Namen gerufen wurde: «Pilatus!» Die frommen Katholiken vermieden es deshalb tunlichst, sich dieser sagenumwobenen Gegend zu nähern. Die Obrigkeit verbot es gar. Viele für die Stadt Luzern verheerende Unwetter wurden darauf zurückgeführt, dass der See insgeheim aufgesucht wurde.

Es waren Reformatoren und Humanisten, die sich im 16. Jahrhundert daran machten, den Spuk aufzuklären. Diese Wanderungen zum Pilatussee gelten dabei als alpinistische Pionierleistungen.

Vadians Vorgänger wurde 1387 verhaftet

Der Luzerner Archivar P.X. Weber schreibt 1913 in seiner Pilatuschronik, dass es eben nicht die schönen Aussichten waren, die den St. Galler Geistlichen Joachim von Watt, genannt Vadian, lockten, sich zum Pilatussee (und vielleicht zum Mittagsgüpfi) zu wagen. Die ersten Besuche hätten vielmehr etwas ganz anderem gegolten – der Wissenschaft nämlich. Genauer: «Einer vermeintlichen Naturmerkwürdigkeit, dem vom gemeinen Volk mit den Renggbachausbrüchen in Verbindung gebrachten und deshalb verrufenen, mysteriösen Pilatusseelein in der Oberalp.» Erst später, ab dem 17. Jahrhundert sei immer wieder das Widderfeld Ziel von Erkundungen geworden, die übrigen Berghöhen noch später.

Bereits 1387 ist ein Versuch dokumentiert, der das Phänomen des verwunschenen Pilatussees aufklären wollte. Die unbewilligte Expedition von Niklaus Bruder jedoch endete mit der Gefangennahme des Mönchs und seiner Mitstreiter. Vermutlich, so heisst es in der Chronik weiter, hat ein Unwetter die Truppe zum Umkehren gezwungen. Das Unwetter sei wohl der Störung der Totenruhe des Pilatus geschuldet gewesen. Obwohl bis 1500 nur wenige Pilatusbesuche dokumentiert sind, ist davon auszugehen, dass es nicht wenige Neugierige gewesen sein dürften, die sich zum Pilatussee begaben – selten mit einer Ausnahmebewilligung, öfter insgeheim.

Der korpulente Kleriker als Alpenpionier zu Ross

Wieviel Verhandlungsgeschick nötig war, damit Vadian mit seinen Begleitern 1518 die Bewilligung der Stadtoberen von Luzern bekam, um sich zum verfluchten Seelein zu begeben, ist nicht überliefert. Im Jahr seiner Rückkehr nach St. Gallen (siehe Kasten oben) war er nun nach Luzern gereist um die Pilatussage zu widerlegen. Mit den Luzerner Humanisten Xylotectus und Myconius sowie seinem Zürcher Mitstreiter und Schüler Konrad Grebel machte er sich auf den Weg. «Die Vadianische Expedition verliess Luzern in der Frühe eines Augustmorgens», heisst es in der Beschreibung von Weber weiter.

«Alle Teilnehmer waren zu Pferd. Der Doktor war nämlich von üppigen Körperformen»

Archivar P.X. Weber, 1913

Vadian hatte keinesfalls die Körpermasse, wie wir sie von einem Pionier des Alpinismus erwarten: «Alle Teilnehmer waren zu Pferd. Der Doktor war nämlich von üppigen Körperformen», heisst es. Sein Freund Johannes Kessler, etwas präziser: Zwar sei er «gross und faist, schwer und laistig» (frei übersetzt: Gross, dick und schwer). Doch: «Ward er über die heg zuo klimmen, durch die Gstud schliesen und berg stigen gar ring und fruotig» (in etwa: Über die Zäune zu klettern, durch Gestrüpp zu schleichen und auf Berge zu steigen, fiel ihm dennoch leicht.)

Der Tross begab sich also auf ziemlich holperigem Weg bis zur Alp Frohnstaffel im Eigenthal, wo man die Pferde weiden liess. Ein Älpler wies ihnen dann den steilen Pfad zur Frutt (Fruttli). «Nicht ohne Schweiss» gelangten sie zum berüchtigten Sumpfgewässer. Ganz geheuer war es dort den Aufklärern aber nicht. Denn auch der skeptische Geistliche, der hinter der Pilatussage leichtgläubige Menschen vermutet, ist bewegt vom gespenstisch ruhig daliegenden See, der fast religiöse Ehrfurcht gebiete.

Der Reformator pendelt zwischen Aufklärung und Legende

Die Überlieferung von Vadians persönlicher Beschreibung des Pilatussees: «In der Mitte der Talsenkung liegt der See. Er ist nur von dünnen Binsen bedeckt und von einem mächtigen Wald umgeben. Tiefe Stille herrscht. Jeden Besucher überkommt deshalb eine feierliche Stimmung. Weder Zufluss noch Abfluss ist bemerkbar. Das Wasser ist schwarz, unheimlich, und ruht in sumpfiger Trägheit. Die Winde haben kaum Zutritt. Gegen Süden und Westen schützt ihn die Berghöhen, gegen Osten und Nord aber seine tiefe Lage und das Waldesdickicht. Auffallend sei es, so werde berichtet, dass er weder durch die Schneeschmelze zu, noch in der Sommerhitze abnehme, der Wasserspiegel halte sich immer in der gleichen Höhe.» Vadian liess in der Folge jede deutliche Erklärung von der Entstehung der Pilatusgewitter auf sich beruhen. Dem Hirten, der ihnen den Weg wies, und der es mit der Angst zu tun bekam, hatte er zuvor versprochen, keinen Gegenstand in den See zu werfen. Eindeutig widerlegen konnte Vadian die Legende also nicht.

Die Gesellschaft habe anschliessend noch «die Höhe des Berges» bestiegen. Darunter sei, so Archivar Weber, wohl das Mittaggüpfi zu verstehen. Vielleicht sei aber auch der Berggrat zwischen Rotendosse und Widderfeld gemeint. Nach zweistündiger Rast im Eigenthal sei die Expedition schliesslich bei Einbruch der Nacht nach Luzern zurückgekehrt.

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