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Nidwalden

Als bei Tumulten in Stans Fleischbrocken ins Publikum flogen

Im «Chäslager» kam es vor 50 Jahren zu Tumulten. Grund war das Wiener Festival, das die Nerven der Zuschauer arg strapazierte. Nun werden Zeitzeugen gesucht.
Das Chäslager in Stans heute. (Bild: PD)

(pd/mst) Grosses hatten die jungen Leute vom Stanser «Chäslager» vor 50 Jahren mit dem Wiener Festival vor. Geplant waren eine Ausstellung, ein Filmabend, Lesungen, verschiedene Aktionstheater und ein Auftritt des Balladensängers Rudolf Schwendter. Die meisten der jungen Künstler gehörten zur Wiener Avantgarde. Einige, zum Beispiel der Schriftsteller Wolfgang Bauer, wurden später mit renommierten Preisen ausgezeichnet, wie das Kulturhaus in einer Mitteilung schreibt.

Aber in Stans empörte sich die Mehrheit der Besucher über die Auftritte der Wiener Künstler. Der Nidwaldner Regierungsrat war so schockiert, dass er damit drohte, das «Chäslager» polizeilich zu schliessen. Dieses sei «zu einem Ort von Obszönitäten und von Schaustellungen bedenklichsten Niveaus geworden». Nur wenige Berichterstatter lobten den Mut des Kleintheaters, des «derzeit interessantesten ‹Kulturzentrums’ der Schweiz».

Stans war laut der Mitteilung kein Einzelfall. Sergius Golowin, einer der prominentesten Vertreter der Schweizer Gegenkultur, schrieb in einem Rückblick zum Wiener Festival in Stans: «Die Erscheinungen, Zusammenstösse, die dort reichlich stattfanden, waren höchstens in ihrem Mini-Umfange, nicht in ihrem Grundwesen von denen in Zürich und Bern, Wien oder Paris verschieden!»

Publikum reisst Bühnenvorgang hinunter

Als Höhepunkt der Provokationen des Wiener Festivals gilt bis heute das Aktionstheater «Hunger: Biafra». Auf Flugblättern, im Nidwaldner Volksblatt und sogar im Hauptgottesdienst am Sonntagmorgen wurde auf diesen «Wohltätigkeitsanlass» im «Chäslager» hingewiesen. Eintritt: 4 Franken. Der Erlös gehe an die Hungernden in Biafra. So pilgerten nach dem Nachtessen viele Stanser ins «Chäslager». Als sich der Vorhang öffnete, nahmen an einem weiss gedeckten Tisch die Mitglieder des Wohltätigkeitskomitees für Biafra Platz und assen, was der Stanserhof geliefert hatte. Ab und zu flogen auch ein paar Fleischbrocken oder abgenagte Knochen ins Publikum. Als nach dem Essen ein Mitglied des Wohltätigkeitskomitees an den Bühnenrand trat und vorrechnete, wie viel vom Eintrittsgeld nach Abzug der Ausgaben für das Essen an Biafra überwiesen würde – 3.10 Franken – brach ein Tumult aus. Es wurde nach der Polizei gerufen, der Bühnenvorhang hinuntergerissen und Kaplan Schriber erhob sich und forderte die Anwesenden auf, gemeinsam mit ihm das Eintrittsgeld zurückzufordern. Am nächsten Morgen befasste sich der Regierungsrat mit den Vorfällen im «Chäslager» und zitierte den Präsidenten einmal mehr innert Wochenfrist ins Rathaus.

Regula Odermatt-Bürgi, Kunsthistorikerin und langjährige Leiterin der Kantonsbibliothek Nidwalden, hat das Wiener Festival nicht nur vor, sondern auch hinter der Bühne miterlebt. Ihr Mann, der Eisenplastiker Josef Maria Odermatt (1934-2011), war damals Präsident des «Chäslagers». Gegenüber den Behörden und der Öffentlichkeit übernahm er die Verantwortung für das Festival, obwohl dieses vor seinem Amtsantritt geplant worden war. Josef Maria Odermatt wurde von verschiedenen Seiten so massiv unter Druck gesetzt, dass er sein Amt niederlegte und aus dem Verein austrat.

Gespräch zu Ereignissen geplant

Beat Wyrsch ist Regisseur und Gründer der Pocket Opera Company, des ersten freien experimentellen Musiktheaters Deutschlands, und von 2007 bis 2013 war er Direktor des Theaters Biel Solothurn. Zusammen mit den Brüdern Beat und Otto Odermatt gab er die von Rolf Winnewisser und Fredy Schwegler gestaltete «Chäslager»-Zeitung zum Wiener Festival heraus. Beat Wyrsch wurde nach dem Wiener Festival zusammen mit den beiden anderen Redaktoren aus dem Verein ausgeschlossen.

Nun plant das «Chäslager» ein Gespräch zu den Ereignissen: Brigitt Flüeler moderiert. Alle, die das Wiener Festival miterlebt haben, sind eingeladen, von ihren Erlebnissen zu erzählen.

«Chäslager» Stans, Donnerstag, 11. April, 20 Uhr

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