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Luzern

Aktion «Beim Namen nennen» – oder wie während 24 Stunden 34'000 Namen gelesen werden

Im Mittelmeer ertrinken noch immer Tausende Flüchtlinge jährlich, darauf möchte die temporäre Ausstellung vor der Luzerner Peterskapelle aufmerksam machen. Ein Syrer erzählt dieser Zeitung, wie er seine Cousine ans Mittelmeer verloren hat.
In der Peterskapelle stehen auf Zetteln die Namen im Mittelmeer verstorbener Flüchtlinge.
(Bild: Nazir Amir (Luzern, 24. Juni 2020))

Chiara Zgraggen

Hinter diesem Artikel steckt mehr als die gut 3000 Zeichen, die er umfasst. Mit den Geschichten hinter der Recherche gelänge es dem «Schreiberling» dieses Artikels gewiss, eine gesamte Ausgabe zu füllen. Eine hat jedoch ansatzweise Platz: jene der Verwandten von Nazir Amir. Er hat eine Familienangehörige ans Mittelmeer verloren. Doch dazu später mehr.

Der Anfang dieser Geschichte beginnt vor der Peterskapelle in der Stadt Luzern. Just an jenem Ort, an dem täglich Hunderte Menschen vorbeischlendern, die Sonne auf ihr Haupt scheinen lassen. Seit Dienstag steht an diesem Ort ein temporäres Mahnmal in Form verschiedener Bilder für die über 34'000 Flüchtlinge, die ihr Leben im Mittelmeer verloren haben, und ihre Helfer. Es mag grotesk erscheinen, das frohe Leben neben den Fotografien derer, welche dem Tod mehrfach in ihrem Leben ins Auge schauen mussten. Der Betrachter blickt auf ein Bild von einem Mann und einer Frau. Der Mann steht im Fokus. Ein älterer Herr, von Zornesfalten gezeichnet. Doch zornig schaut er gar nicht aus – er lacht, wirkt erleichtert. Ebenso die Frau, die im Hintergrund grinst. Weitere Bilder erlauben einen Einblick in das Wirken jener, die im Mittelmeer für das Leben kämpfen – Helfer wie Geflüchtete.

Freiwillige lesen während 24 Stunden Eckdaten vor

Szenenwechsel. Im Innern der katholischen Peterskapelle haben am Dienstagmittag Menschen freiwillig begonnen, während 24 Stunden die Schicksale jener Menschen zu erläutern, welche die Flucht auf der Mittelmeer-Route nicht überlebt haben. Dazu erwähnen sie, falls Informationen dazu existieren, die Namen, Todesumstände, Herkunftsländer. Die Daten werden von der Nichtregierungsorganisation «United for Intercultural Action» zusammengetragen und laufend erneuert. Derzeit zählt die Liste über 40'000 Namen.

Einer dieser Namen trägt die Cousine des eingangs erwähnten Nazir Amirs. Seit ihrem Fluchtversuch vor gut vier Jahren gilt die Syrerin als vermisst. Nazir Amir erzählt die Geschichte, die wahrscheinlich auf tausende Flüchtlinge zutrifft. Von Schleppern, die horrende Preise für die Überfahrt ins «gelobte Land Europa» verlangen. Von Booten, auf die sechs Leute passen würden, auf denen jedoch dreissig Personen gepfercht werden. Er erzählt, wie seine Cousine mit ihrem Bruder, drei Kindern und drei Müttern auf engstem Raum ausharrte. Coronatauglich dürfte dies nicht gewesen sein.

Nazir unterbricht die Erzählung und zückt sein Smartphone hervor. Nach kurzer Stille zeigt er ein Video seines Cousins. «Plötzlich hat der Motor aufgehört zu brummen», schildert der junge Syrer. Der mutmassliche Schlepper – verschwunden. Dann sei das Boot innert kurzer Zeit im Meer verschwunden. Er habe Schreie von Kindern und Frauen gehört, er könne sich noch genau daran erinnern. In diesem Moment bricht der junge Asylsuchende im Video in Tränen aus. Nazir Amir, ein gestandener Mann mit eigenem Fotogeschäft in der Schweiz, tut es ihm gleich. Er stellt die Lautstärke des Gerätes auf ein Minimum. «Ich kann das nicht mehr hören», sagt er, während er mit den Tränen kämpft. Seit dieser Nacht gilt seine Cousine als verschwunden. Geschluckt vom Mittelmeer, so wie 40'000 andere Flüchtlinge.

Dieser Text umfasst gut 3000 Zeichen, er ist also in ungefähr fünf Minuten gelesen. In dieser Zeit haben laut Schätzungen 130 Menschen ihre Flucht begonnen. Wie viele von ihnen überleben, ist ungewiss.

Die Namen werden bis am Mittwoch, 25. Juni, in der Luzerner Peterskapelle gelesen. Die Fotografie-Ausstellung dauert bis zum 3. Juli, bevor sie nach Zürich verschoben wird.

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