Reto Bieri
Alle vier Jahre passt der Bundesrat die Agrarpolitik neu an, 2022 ist es wieder so weit. Künftig sollen in der Landwirtschaft unter anderem die Ehepartner bessergestellt, die Prämien gegen Ernteausfälle verbilligt, Innovationen gefördert und die Produktion umwelt- und tierfreundlicher werden.
Doch daraus wird vorerst nichts. Der Ständerat hat die Vorlage namens AP22+ in der Dezembersession sistiert und verlangt in einem Postulat Nachbesserungen. Der Bericht soll Ende 2022 vorliegen. Der Nationalrat verzichtet am Dienstag wohl ebenfalls darauf, die neue Agrarpolitik zu beraten. Dies hat die nationalrätliche Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) Anfang Februar mit 14 zu 11 Stimmen empfohlen.
Die Sistierung ist ganz im Sinne des Luzerner Mitte-Nationalrats Leo Müller, der Vizepräsident der WAK ist. Der Ruswiler Anwalt und Agronom nennt als Hauptgrund den Selbstversorgungsgrad, der von heute rund 60 auf 52 Prozent sinken würde. «Wir sollten die Schweizer Landwirtschaft nicht so konstruieren, dass sich jeder zweite Einwohner aus Importprodukten ernähren muss.» Das entspreche nicht dem Wunsch der Bevölkerung, die vor vier Jahren mit 78 Prozent Zustimmung klar Ja gesagt hat zu einer neuen Verfassungsbestimmung über die Ernährungssicherheit.
Kanton Luzern ist überproportional betroffen
«Zudem würden die Einkommen im Sektor Landwirtschaft um rund 265 Millionen Franken sinken. Das ist eine massive Einschränkung», sagt Müller weiter. Als landwirtschaftlich geprägter Kanton sei Luzern überproportional von der AP22+ betroffen. «Schon bei der letzten Agrarvorlage stellte man die Tierhaltungsbetriebe schlechter, jetzt will man sie nochmals einschränken», sagt Leo Müller, der zudem Vorstandsmitglied des Luzerner Bäuerinnen und Bauernverbands (LBV) ist.
Die AP22+ sei für alle Landwirte keine optimale Lösung. «Von der bäuerlichen Basis höre ich oft, die Politik solle nicht immer alle vier Jahre wieder etwas Neues beschliessen. Arbeiten mit der Natur sind langfristige Prozesse, da kann man nicht einfach einen Schalter drehen», sagt Müller.
AP22+ ist ein «Sammelsurium von Anliegen»
Kein gutes Haar an der AP22+ lässt auch Stefan Heller, Geschäftsführer des LBV. «Die Vorlage ist ein Sammelsurium von Anliegen und war von Anfang an umstritten.» Zum Beispiel, dass für den Bezug von Direktzahlungen die höhere Fachprüfung verlangt wird. «Diese Forderung ist politisch nicht mehrheitsfähig, gerade in den Berggebieten, wo viele Betriebe im Nebenerwerb geführt werden.» Für Heller stellt sich folgende Grundsatzfrage:
«Die Branche kann nicht Ja sagen zu einer Vorlage, bei welcher das Einkommen der Landwirte um 265 Millionen Franken sinkt, die Tierproduktion um 3 Prozent und die Pflanzenproduktion um 11 Prozent abnimmt.»
Ein weiterer Kritikpunkt: Auch wenn die bessere soziale Absicherung der Frauen ein berechtigtes Anliegen sei, gehöre dies nicht in eine Direktzahlungsverordnung. Heller unterstützt das Postulat des Ständerats, das eine Gesamtschau verlangt. Die ganze Ernährungskette soll unter die Lupe genommen werden. «Es braucht eine Gesamtsicht, bis hin zu den Konsumenten», sagt Stefan Heller.
Angespannte Stimmung wegen der beiden Agrarintiativen
Prisca Birrer-Heimo hingegen kann nicht nachvollziehen, dass sich das Parlament der Diskussion über die künftige Ausrichtung der Agrarpolitik verweigert. Die SP-Nationalrätin und oberste Schweizer Konsumentenschützerin hat in der WAK gegen die Sistierung der AP22+ gestimmt. Einer der Gründe für das «Katz- und Mausspiel» liegt laut der Rothenburgerin in den beiden brisanten Agrarinitiativen (Trinkwasser und Pestizid), über welche die Schweiz am 13. Juni abstimmt. Die Stimmung in der Landwirtschaft sei angespannt, man wolle eine Diskussion über die AP22+ vermeiden.
Eine Verzögerungstaktik ortet Birrer auch in der Debatte über die parlamentarische Initiative, die der Ständerat als eine Art Gegenvorschlag zu den beiden Agrarinitiativen lanciert hat, um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Anstelle eines Verbots schlägt das Parlament einen Absenkpfad beim Pestizideinsatz vor sowie eine Offenlegungspflicht für den Dünge- und Futtermittelbezug. Bei letzterem Punkt sind sich Stände- und Nationalrat uneinig, weshalb sich die Diskussion hinzieht.
Ein Grossteil des Saatguts und des Futters wird importiert
Prisca Birrer plädiert dafür, in die Beratung der neuen Agrarpolitik AP22+ einzusteigen. Beim vielzitierten Selbstversorgungsgrad werde meist verschwiegen, dass ein grosser Teil des Saatguts und der Futtermittel importiert wird. «Gerade im Kanton Luzern mit seinem hohen Schweine- und Rindviehbestand ist das sehr fragwürdig.»
Es gebe immer mehr innovative Bauern, die auf eine nachhaltige Produktion umsteigen wollen. «Den Schweizer Bauernverband hingegen erlebe ich als statisch und bewahrend. Nicht alle Bauern sind einverstanden mit seiner Haltung.» Auch im Kanton Luzern gebe es zunehmend Landwirte, die etwas verändern wollen, die Zahl der Biobetriebe nehme zu. Sie machen knapp zehn Prozent der rund 4500 Luzerner Landwirtschaftsbetriebe aus. Das ist deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt, der bei rund 15 Prozent liegt.
Auch Bio Luzern ist unzufrieden mit der Vorlage
Der Verein Bio Luzern bedauert einerseits, dass die AP22+ noch nicht umgesetzt wird, «denn sie hätte punktuell Verbesserung für die Umwelt bewirkt», sagt Vorstandsmitglied Christian Galliker. «Auf der anderen Seite sehen auch wir, dass die AP22+ ein Flickenteppich ohne grundlegendes Konzept ist.» Den geforderten Bericht sehe man als Chance, in der Agrarpolitik auf die wichtigen Fragen zu fokussieren, insbesondere die langfristige Ausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik.
Landwirte befürchten mehr Bürokratie
Vorbehalte gegenüber der AP22+ hat auch Nationalrätin und Bäuerin Priska Wismer-Felder. Sie befürwortet die Sistierung. «Einige Punkte machen uns Landwirten Angst, wie der Rückgang der Einkommen und der steigende administrative Aufwand», sagt die Mitte-Politikerin, die mit ihrer Familie in Rickenbach einen Hof bewirtschaftet.
Im Umweltbereich hingegen nehme die AP22+ wichtige Anliegen auf. «Damit diese durch die Sistierung nicht auf die lange Bank geschoben werden, hat man einige Punkte separat aufgegriffen, wie den Absenkpfad beim Pestizideinsatz.» Aus bäuerlicher Sicht sei der Schutz der Umwelt unbestritten, betont Wismer, die wie Nationalratskollege Leo Müller im Vorstand des LBV sitzt. In den letzten Jahren sei einiges gegangen: «Nährstoffbilanzen, Ausgleichsflächen und Vernetzungsflächen für Biodiversität; wir sind auf einem guten Weg.»
Unumstritten ist im Übrigen der finanzielle Zahlungsrahmen für die Schweizer Landwirtschaft. Für die Jahre 2022 bis 2025 sind insgesamt 13,8 Milliarden Franken vorgesehen. Der Ständerat sowie die WAK des Nationalrats haben dazu klar Ja gesagt.