Pascal Studer
Die Strasse in Ebikon in Richtung Rotsee ist feucht. Es hat den ganzen Tag etwas geregnet, der Himmel ist noch immer wolkenverhangen. Manche würden bei diesem Wetter lieber einen warmen Tee unter einer kuscheligen Wolldecke schlürfen. Nicht Seppi Eggerschwiler: Der 52-Jährige freut sich auf die heutige Joggingrunde: «Ich mag es, Sport zu treiben. Und mit Isabella laufe ich einfach gerne.»
Der Kies knirscht unter den Schuhen. Das Lauftempo ist gemächlich, aber nicht langsam – man kommt durchaus ins Schnaufen. «Bodenwelle!», sagt Isabella Niederberger deutlich. Die 53-Jährige ist mit ihrem Laufpartner durch ein schwarzes Band verbunden, beide laufen im Gleichschritt. Das ist wichtig, denn Seppi ist blind. Damals in der ersten Klasse bemerkte seine Lehrerin, dass er beim Sehen Mühe hatte. «Dann hat sich die Sache stetig verschlechtert», erklärt er. In seinem 25. Lebensjahr verlor er dann sein Augenlicht komplett.
Genaue Anweisungen wichtig
Dass er trotzdem joggen gehen kann, verdankt er dem gemeinnützigen Förderverein Blind-Jogging. Gegründet in Basel, gibt es seit rund neun Jahren auch in Luzern Personen, die als Guides Sehbehinderte an die Hand nehmen, um ihnen das Laufen zu ermöglichen.
«Uneben!» Wieder ist Isabellas Stimme zu hören. Damit sie ihren Laufpartner optimal führen kann, muss sie immer etwa 20 bis 30 Meter vorausschauen. Gibt es eine Steigung? Eine leichte Kurve? Oder andere Hindernisse? «Wichtig ist beispielsweise, dass ich Hunde klar ankündige», sagt sie. Ist dieser nicht an der Leine, ist besondere Vorsicht geboten. Nicht etwa, weil der Hund angreifen könnte. Sondern, weil es möglich ist, dass er die Laufrichtung der beiden kreuzt und Seppi dann abrupt bremsen muss.
Der Rotsee ist bereits in Sicht, als die beiden tatsächlich einem Hund und seinem Herrchen begegnen. Sie verlangsamen ihre Schritte, marschieren jetzt nur noch. Dann grüssen sie den Hundehalter freundlich – und weiter geht der Lauf.
Kein Vertrauen, kein Joggen
Man merkt: Isabella und Seppi verstehen sich gut. Wenn einmal kein Hindernis in Sicht ist, wird auch einmal gewitzelt und gelacht oder eine Anekdote aus dem Alltag erzählt. «Wir haben ein sehr kollegiales Verhältnis», sagt Isabella. Seit zwei Jahren sind die beiden zusammen unterwegs. Die Routen wechseln sie jeweils ab – je nach Lust und Laune.
Die Beziehung zwischen Sehbehinderten und Guide ist kein unwesentlicher Aspekt. Seppi betont:
«Es muss Vertrauen da sein.»
Fehlt dieses, fühlt er sich unwohl. Dann sieht er auch davon ab, mit dieser Person laufen zu gehen. Immerhin ist er auf ihr Sehvermögen und klare Kommunikation angewiesen.
Wie wichtig dies ist, wird klar, als die beiden in eine Seitenstrasse einbiegen. Auf einem Parkplatz steht ein silberner Lieferwagen, das Heck ist gegen die Strasse ausgerichtet. Der Kofferraum steht offen, ist nach oben aufgeklappt. Für Isabella – fast zwei Köpfe kleiner als ihr Laufpartner – ist dies unproblematisch. Doch der hünenhafte Seppi wäre mit dem Gesicht direkt gegen die scharfkantige Tür geprallt. «Achtung Seppi, wir gehen leicht nach links», sagt Isabella. Mit dem Unterarm zieht sie ihn dabei leicht auf die sichere Route. Die Gefahr ist erfolgreich umgangen.
Nur während der ersten Welle verboten
Auf solche Situationen souverän zu reagieren, will gelernt sein. Ohne Ausbildung ist es nämlich nicht möglich, Sehbehinderte selbstständig auf einer Joggingrunde zu begleiten. «Zunächst begleitet man ein Tandem einmal», erklärt Isabella Niederberger. Dann müsse man einen eintägigen Kurs in Basel absolvieren. 150 Franken koste dieser. «Dort lernen wir neben dem Führen auch andere wichtige Dinge.» So werde etwa der Nothelfer-Kurs aufgefrischt – wie bei jeder Sportart könne ein Unfall passieren. Ein entsprechendes Notfallset ist daher, genauso wie das Tragen einer gelbleuchtenden Blinden- oder Signalweste, obligatorisch. «Es ist allerdings eine Seltenheit, dass etwas passiert», sagt Isabella. Seppi sei beispielsweise noch nie gestürzt.
Dann kommt es schliesslich zur Feuertaufe: Mit einem dritten Guide als Aufseher führt man erstmals selbstständig einen Sehbehinderten. Ist diese Generalprobe erfolgreich, kann es so richtig losgehen. «Jede Woche oder mindestens alle 14 Tage geht man dann zusammen joggen», sagt Isabella. Alle der insgesamt neun Luzerner Guides haben diese Ausbildung absolviert.
Blind-Jogging war während Corona nur in der ersten Welle verboten. Diese Zeit war für Seppi nicht einfach – zumal er auch nicht berufstätig sein durfte. «Normalerweise arbeite ich im Bildungs- und Begegnungszentrum in Horw. Inzwischen ist dies wieder möglich», erklärt er. So war er oft alleine zu Hause in seiner 2,5-Zimmer-Wohnung in Ebikon. «Umso schöner war es, als die Touren mit Isabella im April endlich wieder möglich wurden», sagt er und strahlt dabei. Der Lauf ist inzwischen beendet. Zum Schluss gab es sogar noch etwas Sonnenschein.
Mehr Informationen: www.blind-jogging.ch