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Ski alpin

Weltcup-Abfahrt Kvitfjell I, Text (1)

Niels Hintermann ist ganz oben angelangt. Der Zürcher gewinnt in Kvitfjell in Norwegen gemeinsam mit dem überraschenden Kanadier Cameron Alexander zum ersten Mal eine Weltcup-Abfahrt. Die Premiere ist die nächste Entschädigung für ganz schwierige Zeiten.

Er schien es zu ahnen. Gratulationen wollte Hintermann noch keine entgegennehmen - auch nicht, als der Fahrer mit der Nummer 30 im Ziel war, im Normalfall die imaginäre Grenzlinie, die die Aussenseiter von den krassen Aussenseitern trennt, hinter der in der Startliste nur noch Konkurrenten aufgeführt sind, die mit dem Ausgang des Rennens nichts zu tun haben.

Doch den Normalfall gabs nicht an diesem Freitag. Hintermann kam bei der Startnummer 39 nochmals gewaltig ins Zittern. Der kaum bekannte Cameron Alexander fuhr die Weltcup-Abfahrt seines Lebens und war im Ziel auf den Hundertstel gleich schnell wie der Zürcher. Cameron Alexander? Dass diesen 24-jährigen Kanadier niemand auf der Rechnung hatte, war verständlich.

Bei genauerem Blick in die Statistiken relativierte sich die Sensation dann aber doch etwas. Im ersten Training am Mittwoch war Alexander Siebenter geworden, drei Wochen zuvor hatte er im Europacup in Kvitfjell die Abfahrt ebenfalls gewonnen und war er im Super-G Zweiter geworden. Auf der Olympia-Piste der Spiele 1994 in Lillehammer hatte er auch sein zuvor bestes Ergebnis im Weltcup bewerkstelligt, als Zehnter in der Abfahrt vor zwei Jahren.

Hintermanns verdientes Glück

Zeitgleich! Hintermann fiel ein Stein vom Herzen. Das Glück war auf seiner Seite. Vielleicht ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit für einen wie ihn, der schon sehr oft auf der anderen Seite gestanden hatte, der auch weiss, was Pech bedeutet. Verletzungspech vor allem.

Zwei der zahlreichen unschönen Kapitel handeln auch von Stürzen in Kvitfjell. Vor drei Jahren hatte er auf dem Olympiabakken bei einem Sturz im Training nach den Weltcup-Rennen einen Knochenbruch an der linken Mittelhand erlitten, im vorletzten Winter musste er hier wegen Schmerzen im linken Knie auf Renneinsätze verzichten.

Um einiges schlimmer hatte es Hintermann im Sommer vor vier Jahren erwischt. Eine im Training in Zermatt erlittene Schulter-Luxation hatte den Ausfall für den gesamten folgenden Winter zur Folge. Der Tiefschlag folgte nur sieben Monate nach seiner ersten Sternstunde im Weltcup, nach dem Sieg in der Kombination in Wengen, der ihm dank der besonderen Wettersituation praktisch in den Schoss gefallen war. Was Hintermann damals noch nicht wusste: Ausgerechnet dieser Sieg sollte am Anfang der allerschwierigsten Phase seiner Karriere stehen.

Hintermann war mit einem Schlag ein gefragter Mann, er stand unverhofft im Scheinwerferlicht. Doch der Jüngling war von der Situation überfordert und, vor allem, er deutete die Zeichen falsch. Er verlor die Orientierung und auch den Boden unter den Füssen. Die verpasste folgende Saison bekam ihm selbstredend ebenso nicht gut. Hintermann stellte sich die Sinnfrage. Der Rücktritt wurde zum Thema.

Hintermanns Umdenken

Doch Hintermann entschied sich anders, für seinen Beruf als Skirennfahrer. Er sah seinen Weg noch nicht am Ende, auch wenn dieser Weg weitere Stolpersteine, neuerliche verletzungsbedingte Rückschläge, beinhaltete. Doch Hintermann blieb geduldig. Sein Glaube an die eigenen Fähigkeiten vertrieb auch die letzten Gedanken an ein vorzeitiges Aufgeben.

Geduld war gleichwohl weiter gefragt. Die Annäherung an die Besten erforderte seine Zeit. Das lange Warten endete erst im vergangenen Dezember. Innert zehn Tagen schaffte Hintermann als Dritter in Gröden und in Bormio seine ersten Klassierungen unter den ersten drei in Weltcup-Abfahrten. Gründe für die eklatante Steigerung in dieser Saison kann der Zürcher keine nennen, eine Erklärung, wie sich der Hintermann auf Vordermann gebracht hat, hat er keine.

"Es ist wohl eine Sache der Einstellung, der Frage, die man sich selber stellen muss: 'Macht es noch Sinn?'", sagt Hintermann. Er schweifte ab in die Zeit nach der Schulterverletzung. "Irgendwann sass ich hin und schrieb nieder, was ich in jeder einzelnen Saison erreichen möchte. Es waren sehr, sehr hohe Ziele. Alles habe ich nicht erreicht. Aber in dieser Saison bin ich ziemlich nahe dran."

Ziemlich nahe dran? Nach dem ersten Abfahrts-Sieg kommt diese Einschätzung schon fast einer Untertreibung gleich. (sda)

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