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Leichtathletik-Meisterschaften

Sprint-Drama um Mujinga Kambundji: Rote Karte für die Weltmeisterin und eine umstrittene Begnadigung

Eine delikate Frage für den Schweizer Leichtathletik-Verband: Ab wann gilt eine Disqualifikation als Majestätsbeleidigung? So oder so wurde der vermeintliche Höhepunkt des ersten Tages der nationalen Hallen-Meisterschaften in St. Gallen zum Partykiller. 

Mujinga Kambundji muss sich nach dem Final über 60 Meter gedulden, bis sie Klarheit über ihren Meistertitel hat.
Bild: Ulf Schiller / KEYSTONE

Letzte Entscheidung eines stimmungsvollen Abends, den sich auch Peter Zeidler, der Trainer des FC St. Gallen nicht entgehen lässt. Final über 60 Meter der Frauen. Auf Bahn 5 die grosse Favoritin Mujinga Kambundji, vor einem Jahr sensationell Hallen-Weltmeisterin über diese Distanz. Der Starter gibt das Zeichen, die acht Finalistinnen stürmen los - und werden zurückgeschossen. Fehlstart!

Während das Publikum am grossen Bildschirm die Wiederholung der Startsequenz betrachtet und realisiert, dass es unglaublich schwierig ist, die Sünderin zu bestimmen, diskutieren Startrichter und Jurymitglieder über die Konsequenz. Gelbe oder gar Rote Karte? Und wenn ja - für wen?

Es ist doch nicht etwa Mujinga Kambundji? Ein Beobachter sagt, das könne man doch nicht machen, das grosse Aushängeschild der Schweizer Leichtathletik zu disqualifizieren. Doch die Regeln sind für alle gleich. 0,1 Sekunden ist die minimale Zeitdauer, in der die Reaktion im Startblock auf den Schuss toleriert werden. Bei Kambundji waren es 0,088 Sekunden. Sie sieht Rot!

Die 30-jährige Bernerin schaut sich das Verdikt an, kehrt auf die Startposition zurück und läuft unter Protest. Mit ihrer schnellsten Zeit des Jahres von 7,03 Sekunden gewinnt sie überlegen vor Sarah Atcho (7,21), welche nach ganz schwierigen Jahren unter Tränen die Wiedergeburt und ihre EM-Limite feiert.

Danach beginnt die grosse Disqualifikations-Diplomatie. Mujinga Kambundjis Trainer und Lebensgefährte Florian Clivaz stürmt emotionsgeladen auf den Wettkampfplatz. Er reicht den offiziellen Protest ein, der ihn 100 Franken kostet. Auch einige hohe Funktionäre des Verbandes diskutieren intensiv mit dem Chef-Schiedsrichter und den Jurymitgliedern. Langes Warten auf die definitive Entscheidung, die erst 100 Minuten nach dem Rennen fällt.

Kambundjis Rekurs wird hin und her beraten. Ein Grund für eine Begnadigung könnte sein, dass die Bilder zu Tage bringen, dass eine Sprinterin neben ihr zu früh gezuckt und die Weltmeisterin dadurch irritiert hat. Trainer Florian Clivaz stellt sogar die Genauigkeit des Messsystems infrage.

Letztlich die Überraschung, die längst nicht allen in der Halle passt: Der Schiedsrichter erklärt, es habe beim Start eine generell unruhige Situation gegeben, die nicht zu einer Disqualifikation von Kambundji hätte führen dürfen. Der Rekurs wird gut geheissen. Hinter den Kulissen wird heiss diskutiert, wie dieser Entscheid einzuordnen ist. Wäre so etwas an einer WM auch möglich gewesen?

Betroffen vom Entscheid ist auch Lokalmatadorin Salomé Kora. Sie hätte bei einer Disqualifikation die Bronzemedaille geerbt. Aber ihre Stimmung ist unabhängig vom Verdikt im Keller, denn mit ihrer Zeit von 7,26 Sekunden verpasst sie die EM-Teilnahme um zwei Hundertstelsekunden.

Einer, der die reglementarische Gültigkeit der Disqualifikation nicht anfechten will, ist Peter Haas. Trotzdem setzt der langjährige Leistungssportchef von Swiss Athletics ein grosses Fragezeichen hinter die zwischenzeitliche Disqualifikation. Er verweist auf Studien, die besagen, dass der Mensch durchaus eine schnellere Reaktionszeit zeigen kann als die im Reglement festgeschriebenen 10 Tausendstelsekunden.

Auch für Mujinga Kambundji selbst ist von Anfang an klar: «Ich habe nichts falsch gemacht. Für mich war das kein Fehlstart.» Wann wurde sie zum letzten Mal aus einem Rennen genommen? Kambundji überlegt lange und sagt: «Ich mag mich nicht erinnern. Es muss ewig lang zurückliegen. Eigentlich mache ich nie einen Fehlstart.»

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