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WM-Halbfinal

Penaltyhelden als Überflieger: Spätzünder Emiliano Martinez und Ruhepol Dominik Livakovic

Der WM-Halbfinal zwischen Argentinien gegen Kroatien ist auch das Duell zwischen Emiliano Martinez und Dominik Livakovic. Wir stellen die beiden unbekannten Helden vor.

Der Spätzünder setzt die argentinische Tradition fort

Gegen die Niederlande wehrte Emiliano Martinez zwei Penaltys ab. (Lusail, 09.12.2022)
Bild: Jorge Saenz/AP

Argentinien ist eine grosse Fussball-Nation. Lionel Messi und Diego Maradona. Mario Kempes und Gabriel Batistuta. Carlos Tevez und Jorge Valdano. Die grossen Stürmer und Strategen der Argentinier waren und sind Superstars. Weltbekannt und in aller Munde. Weltfussballer, Jahrhundertfussballer und WM-Torschützenkönige.

Aber Argentinien ist keine Nation der grossen Fussball-Torhüter. Sergio Goycochea, Carlos Roa und Sergio Romero hiessen sie unter anderem in den letzten 35 Jahren an Weltmeisterschaften. Oder nun in Katar: Emiliano Martinez. Keiner von ihnen war je Meister in einer grossen europäischen Liga oder gewann je die Champions League. Goycochea spielte 1990 in Kolumbien bei Los Millionarios. Roa stand 1998 bei Real Mallorca unter Vertrag, Romero 2010 und 2014 bei Alkmaar beziehungsweise als Ersatzkeeper bei Monaco. Und Martinez ist Torhüter von Aston Villa.

Und doch stiegen sie alle in Argentinien während Weltmeisterschaften regelmässig zu Helden auf. Weil sie etwas sehr gut können, was die Argentinier im Allgemeinen sehr gut können: Penaltyschiessen nämlich. Fünf von sechs dieser finalen Kurz-Entscheidungen haben die Argentinier an WM-Endrunden gewonnen. Vor allem dank ihren Torhütern.

Zuletzt am Freitag in den Viertelfinals gegen die Niederlande. Martinez parierte bravourös die Schüsse von Virgil van Dijk und Steven Berghuis, worauf ihn die bedeutende argentinische Tageszeitung «Clarin» zum «Superhelden» machte. So betiteln sie in Argentinien gegenwärtig sonst eigentlich nur Messi. Dieser schloss sich dem Lob am eigenen Torhüter an: «Wir haben ihm vertraut. Wir wussten, dass er im Penaltyschiessen für uns da ist. Er ist ein Tier.»

Emiliano Martinez wird nach dem Sieg gegen die Niederlande von Captain und Superstar Lionel Messi umarmt. (Lusail, 09.12.2022)
Bild: Abir Sultan/EPA

Im Alltag steht der 30-jährige Martinez zwar in der Premier League unter Vertrag, der besten Liga der Welt, doch mit Aston Villa spielt er niemals um Titel und Glorie. Derzeit liegt der Klub aus Birmingham auf Platz 12. Zu Aston Villa gelangte Martinez auf Umwegen. Zwischen 2010 und 2020 stand er bei Arsenal unter Vertrag, zunächst während zwei Jahren in der Nachwuchs-Akademie. Nur gespielt hat er für die Londoner kaum. Während sechs dieser zehn Jahre war Martinez ausgeliehen, an Klubs wie Oxford United, Rotherham oder Reading, maximal zweite Liga war das.

Erst mit 29 Jahren zur Nummer 1 geworden

Erst im Frühsommer 2020, als die Meisterschaft nach dem ersten Fussball-Corona-Lockdown in England wieder aufgenommen wurde, avancierte Martinez bei Arsenal endlich zum Stammkeeper. Er durfte den verletzten Deutschen Bernd Leno ersetzen. Mit Martinez gewann Arsenal den FA-Cup im Final gegen Chelsea und danach den Supercup gegen Meister Liverpool.

Als Leno auf Beginn der neuen Saison von der Verletzung zurückkam, forderte Martinez einen Stammplatz – oder einen Transfer. Darauf verkaufte ihn Arsenal nach insgesamt nur 15 Einsätzen in der Premier League an Aston Villa, wo er nun in der dritten Saison die Nummer 1 ist.

Ein Spätzünder ist Martinez auch in der argentinischen Nationalmannschaft. Ein erstes Aufgebot erhielt er zwar schon 2011, als er bei Arsenal noch nicht einmal zum Profi-Kader gehörte und erst 19 Jahre alt war. Zum Einsatz gelangte er damals aber nicht. Bis zum nächsten Aufgebot musste er acht Jahre warten. Wieder war er bloss als Ersatzkeeper dabei. Mit dem Debüt für die «Albiceleste» klappte es erst 2021. Martinez spielte zunächst zwei Spiele in der WM-Qualifikation und danach als Nummer 1 auch an der Copa America in Brasilien.

Diese Kontinental-Meisterschaft gewannen die Argentinier darauf erstmals seit 28 Jahren wieder – mit einem überragenden Messi und dem so überraschenden wie unbekannten Torhüter Martinez. Und wieso wurde dieser schon da zum «Superhelden» ernannt? Klar, weil er Argentinien mit tollen Paraden den Weg zum Triumph ebnete. Nicht nur beim 1:0 im Final gegen Gastgeber Brasilien, sondern vor allem auch im Halbfinal gegen Kolumbien, als er im Penaltyschiessen drei gegnerische Versuche abwehrte.

Auferstehung des Unsicheren

Der Held Kroatiens: Torhüter Dominik Livakovic.
Bild: Georgi Licovski / EPA

Die Parallelen sind eindrücklich: Zum zweiten Mal nacheinander steht Kroatien im WM-Halbfinal. Und wieder hext der Torhüter das Vier-Millionen-Einwohnerland zweimal im Penaltyschiessen in den WM-Halbfinal. 2018 gelingen die Siege gegen Dänemark und Russland, diesmal gegen Japan und Brasilien. Doch im Tor steht nun ein anderer. Danijel Subasic, der 2018 vier Elfmeter pariert hat, ist mittlerweile zurückgetreten. Doch Nachfolger Dominik Livakovic steht Subasic in Nichts nach. In zwei Elfmeterschiessen pariert Livakovic genau wie sein Vorgänger vier Schüsse. Gegen Brasilien ärgert er seine Gegenspieler nicht nur im Elfmeterschiessen, schon in den 120 Spielminuten zuvor hatte er Neymar und Co. beinahe zur Verzweiflung gebracht. Die eindeutige Torschussstatistik von 11:1 sollte nicht zum Halbfinaleinzug Brasiliens reichen.

Es ist noch nicht lange her, da war der Name von Dominik Livakovic nur den Insidern des kroatischen Fussballs ein Begriff. Der 27-Jährige ist Torhüter von Dinamo Zagreb. Es ist zwar das beste kroatischen Vereinsteam, doch befindet es sich weit entfernt vom grossen Scheinwerferlicht. Dann und wann gibt es Gruppenspiele in der Champions League zu bereiteten, nur selten gelingt die Überraschung. In diesem September ist es soweit. Gegen Chelsea wächst Livakovic über sich hinaus, hält alles, was auf sein Tor kommt, und führt sein Team zu einem 1:0-Sieg gegen den englischen Topklub. Am Tag darauf muss Thomas Tuchel als Trainer gehen. Der Auftritt in der Champions League könnte als Vorbote für diese WM betrachtet werden.

Eigentlich zeichnete sich früh ab, dass Livakovic viel mitbringt für eine grosse Karriere als Fussballtorhüter. Als Kind hatte er einst Basketball gespielt, wechselte dann, inspiriert vom spanischen Spitzentorhüter Iker Casillas, aber ins Fussballtor. An der WM 2018 war er noch die Nummer 2, nach dem Rücktritt von Subasic war der Weg zur Nummer 1 Kroatiens dann endlich frei. Doch die Fussstapfen seines Vorgängers schienen zunächst zu gross zu sein. Der auserkorene Nachfolger hatte mit Krisen zu kämpfen und strahlte statt Sicherheit Unsicherheit aus. An der EM durfte Livakovic zwar spielen, erhielt aber in jeder Partie einen Gegentreffer und konnte wenig überzeugen. In der WM-Qualifikation musste er dann um seinen Platz kämpfen, wechselte sich mit Ivica Ivusic ab.

Luka Modric (links) mit Dominik Livakovic.
Bild: Abir Sultan / EPA

Es gibt ein Video aus dem November 2021. Zu jenem Zeitpunkt hatte Livakovic seinen Stammplatz im kroatischen Team verloren. In einer Hotel-Lobby redet Superstar Luka Modric auf ihn ein. Das Gespräch wurde für die Dokumentation «Captains – The chosen few» mitgefilmt. Modric, der wie Livakovic aus Zadar stammt, sagt darin seinem Torhüter: «Leider sehe ich bei dir keinen Fortschritt im Nationalteam. Ich habe das Gefühl, dass du Angst hast, Fehler zu machen. Wer macht denn keine Fehler? Hör zu: Du bist ein grossartiger Torwart! Das ist dir bewusst, okay?»

«Wir lassen unsere Herzen auf dem Platz»

Das Vertrauen, das Captain Modric seinem Torhüter ausspricht, scheint danach zu fruchten. Livakovic erkämpft sich den Stammplatz zurück, glänzt danach mit ausgesprochen guten Leistungen. Er spielt sich mit seinen Auftritten in Katar so sehr ins Rampenlicht, dass ein Abschied des langjährigen Stammtorhüters von Dinamo Zagreb wahrscheinlich scheint. Bayern München, dessen Torhüter Manuel Neuer lange verletzt ausfällt, soll am kroatischen Shootingstar interessiert sein.

Der unerwartete Held Kroatiens: Dominik Livakovic.
Bild: Toto Marti/Freshfocus

Nun lieben die Sportjournalisten ihren neuen Torhüter-Helden ebenso, wie die Klatschpresse Ehefrau Helena, die in Katars Stadien im grünen Goalie-Trikot und mit sündhaft teurer Handtasche von Yves Saint Lauren für Aufsehen sorgt. Livakovic selber bleibt bei all der Aufregung jedoch cool. Den erneuten Halbfinaleinzug Kroatiens erklärt er so: «Wir sind als Kämpfer erzogen worden. Wir scheuen keine Mühen, wir geben unser Bestes. Wir lassen unsere Herzen auf dem Platz.»

Das Herz auf dem Platz lassen will Dominik Livakovic auch im WM-Halbfinal gegen Argentinien. Gehen die Parallelen mit 2018 weiter, gibt es diesmal einen Sieg in der Verlängerung.

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