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Sport

Marc Gisin und der Versuch, die Handbremse zu lösen

Marc Gisin erlebt einen schwierigen Start in die Comebacksaison. Nach dem ersten Abfahrts-Training von Beaver Creek reist er bereits ab.
Marc Gisin: Für ein Weltcup-Comeback ist es nach seinem schweren Unfall im letzten Jahr noch zu früh. (Sven Thomann/Freshfocus (Lake Louise, 26. November 2019))

Claudio Zanini

Nach einem Dutzend Fragen zum Stand der Wiedergenesung kommt eine allerletzte: Nervt es, immer über den Gesundheits­zustand reden zu müssen? Marc Gisin lacht, etwas gequält zwar, und eher angedeutet, aber immerhin. Er sagt: «Die Situation ist allgemein frustrierend. Nicht die Fragen dazu.»

Er hat sich an dieses Spiel ­gewöhnt. Nicht zum ersten Mal versucht sich der 31-Jährige von einem schweren Unfall zu erholen. Er steht am Anfang einer Comebacksaison, und die Situation ist wieder einmal vertrackt. Vor einem Jahr erlebte er einen schlimmen Sturz in der Abfahrt von Gröden. So schlimm, dass schon die Überführung mit dem Helikopter ins Kantonsspital ­Luzern als gute Nachricht eingestuft wurde. Wäre er in Lebensgefahr gewesen, hätte man ihn nicht in die Schweiz verschoben. Er hatte Rippenbrüche, Verletzungen an der Hüfte, an der Lunge, kaputte Zähne. Im «Jenseits» sei er gewesen, sagt er.

Nervosität auf dem Sessellift

Als die Speedfahrer am letzten Wochenende in Lake Louise in die Saison starteten, merkte Gisin bereits auf dem Sessellift vor der Trainingsfahrt, wie die Nervosität in ihm aufkam. Ein Jahr nach dem Sturz wieder auf einer Weltcup-Piste: In den Tagen nach Gröden hätte sich keiner zu dieser Prognose verleiten lassen.

Auf dem Schnee bestätigte sich dann, was er bereits in den Sommermonaten spürte. Er schaffte es während der Fahrt nicht, die Hemmungen abzulegen. Sie machten ihn langsam. Im ersten Training lag er knapp vier Sekunden hinter der Bestzeit, im zweiten Training waren es beinahe fünf. «Es ist, als wäre die Handbremse nicht gelöst», sagt er. Schwierigkeiten auf der Piste machen ihm viel mehr zu schaffen als üblich. Er verliert die Lockerheit in den Beinen, sobald die Sicht nicht perfekt ist, oder wenn es Schläge gibt, oder das Tempo hoch wird.

Doch Abfahrer können nur schnell sein, wenn sie in gewissen Passagen die Kontrolle abgeben. Gisin kann das momentan nicht. Er entscheidet das nicht aktiv, sein Unterbewusstsein bremst. Ein diffuses Problem, denn es gibt nicht das eine Zauberwort, das diese Blockade löst. Seine Schwester Dominique, die Comebackexpertin der Familie, versucht ihm mit ihren Erfahrungen zu helfen. Die Olympiasiegerin von 2014 hatte zehn Knieoperationen während ihrer Karriere. Sie musste sich immer wieder überwinden. Mit ihr ist er in «intensivem Austausch», wie er sagt.

Elf Sekunden Rückstand

Es scheint, als könne Marc Gisin den weiteren Saisonverlauf nicht direkt beeinflussen. «Vorschläge nehme ich gerne an», sagt er. «Es braucht sicher Läufe, Fahrten, Kilometer. Auch auf schwierigem Gelände wie in ­Beaver Creek.» Die Abfahrts­piste «Birds of Prey» ist das anspruchsvollste Gelände in Nordamerika. Hier wagte er den nächsten Versuch, ohne sich primär einen Renneinsatz als Ziel zu setzen. Bloss ein weiterer Schritt auf der Suche nach dem verlorengegangenen Vertrauen.

Im ersten Training von ­Beaver Creek hatte er am Mittwoch über elf Sekunden Rückstand. Zahlen der Trainings können irreführend sein – in diesem Fall sind sie es nicht. Dass die Zeit für Rennen noch nicht gekommen ist, teilte am Abend nach dem Training der Skiverband mit. Es sei zwar eine wichtige Standortbestimmung gewesen, wird Gisin zitiert. «Für einen Start am Rennen ist es aber nach wie vor noch etwas zu früh.» Bereits am Donnerstag reiste er nach Engelberg zurück.

Die Resultate erzwingen zu wollen, könnte gravierend sein. Gisin hat das schon einmal ­erlebt. Im Sommer 2016, direkt nach einer Comebacksaison, wollte er in der Vorbereitung ­besonders viel trainieren. Kurz vor dem Saisonstart tauchten Schlafstörungen auf. Die Energie verflüchtigte sich, doch er pushte noch mehr. Rückblickend wird er einmal sagen:

«Früher trainierte ich einfach. Es interessierte mich nicht, wenn ich Schmerzen hatte.»

Im Herbst 2016 startete er geschwächt von den Schlafstörungen in die Saison, die er nach zwei Rennen bereits beendete. Eine posttraumatische Belastungsstörung wurde diagnostiziert. Er hatte den schlimmen Sturz von Kitzbühel 2015 noch nicht verarbeitet, sein Körper befand sich ständig in Alarmbereitschaft.

Marc Gisin erhält die Zeit, die er braucht

Damals und heute sind nur bedingt vergleichbar. Doch die Vergangenheit hat ihn gelehrt, die Signale seines Körpers richtig zu verstehen. Er sagt: «Der Körper nimmt sich die Zeit, die er braucht. Ich respektiere diesen Prozess. Ich bin nicht ungeduldig.» Auch im Team scheint die Gelassenheit vorhanden zu sein. Reto Nydegger, der neue Speedtrainer der Schweizer, der in den letzten Jahren die Norweger trainierte, sagt:

«Wir müssen Schritt für Schritt nehmen. Und sicher nicht drängen.»

Gisin bekommt die Zeit, die er braucht. Im Communiqué von Swiss-Ski heisst es, er würde sich zu Hause auf die nächsten Einsätze vorbereiten. Wann das sein wird, weiss niemand. Die Fragen dürften in diesem Winter dieselben bleiben.

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