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WM-Gastgeberland

Gibt es wirklich Fortschritte in Katar? Was Frauen ohne einen Mann nicht tun dürfen

Ohne die Zustimmung des männlichen Vormunds geht für katarische Frauen bis heute nichts - zum Beispiel, wenn sie heiraten wollen oder den Job wechseln. Auch als Sportlerinnen sind sie nicht gerne gesehen, doch das ändert sich nun allmählich.

Die katarische Hürdenläuferin an der WM 2019 in Doha.
Bild: Getty

In einer Shoppingmall von Doha, in der Hauptstadt von Katar, betreibt Fatma ein Studio für Kampfsportarten. Die Spiegel an der Wand sind frisch geputzt, die Matten auf dem Boden riechen noch neu. Fatma wischt sich den Schweiss von der Stirn. Gerade hat sie drei Freundinnen zu Höchstleistungen getrieben. «Durch den Sport kann ich an körperliche Grenzen gehen», sagt Fatma. «Das gibt mir Sicherheit in anderen Lebensbereichen. Meine Noten in der Uni sind besser geworden.»

Fatma ist Anfang zwanzig, ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. Sie spricht gern über ihre Sportarten, über Muskelgruppen und Körperintervalle. Mit ihren Händen beschreibt sie ihr Kampftechniken. Doch ihre Leidenschaft kann schnell umschlagen, in Frust, manchmal in Resignation. Fatma ist die Leiterin des Sportstudios, inoffiziell. Ein Foto von ihr darf nicht auftauchen, nicht im Eingangsbereich, nicht im Internet.

Fatma fühlt sich unterdrückt - und wird depressiv

«Mein Vater und meine Brüder wollen nicht, dass ich beim Sport fotografiert oder gefilmt werde», erzählt Fatma. «Sie glauben, dass ich dadurch zur Schau gestellt werde. Sie verlangen Disziplin.» Fatma hatte als Kind gern Fussball gespielt, sie gehörte zu den grössten Talenten. Mehrfach hat sie eine Anfrage für das katarische Nationalteam der Frauen erhalten. Mehrfach musste sie ablehnen, denn beim Nationalteam sind Kameras nicht verboten.

In Katar beginnt an diesem Sonntag die Fussball-Weltmeisterschaft der Männer. Seit der Vergabe 2010 steht das Emirat unter internationaler Beobachtung. Die Gesellschaft der Einheimischen wird durch den Wahhabismus geprägt, eine traditionalistische Auslegung des sunnitischen Islam.

Durften lange keinen Sport treiben: Katarische Frauen vor einem WM-Poster.
Bild: Keystone

Fatma bekommt das schon in ihrer Kindheit zu spüren. Als Jugendliche darf sie ihr Handy nur zum Telefonieren nutzen, die Apps sind gesperrt. Ihre Brüder achten auf ihre Kleidung, begutachten ihre Freundinnen. «Ich fühlte mich in jeder Hinsicht unterdrückt», sagt Fatma. «Ich habe das Gefühl, dass meine Kindheit gerade erst zu Ende gegangen ist.» Diese Einschränkungen haben Folgen, Fatma entwickelt Essstörungen, leidet unter Depressionen.

Doch dann beginnt Fatma ihr Studium an einer amerikanischen Universität, die in Doha eine Aussenstelle unterhält. In der Mensa kommt sie mit Studierenden aus allen Kontinenten ins Gespräch. Viele katarische Frauen verzichten hier auf das Tragen der Abaya, der traditionellen schwarzen Bekleidung, die auch das Haar bedeckt.

Fatma nutzt das Sportangebot der Uni. Sie gehört zu den Besten im Basketball und Fussball. Doch eine Karriere als Profisportlerin bleibt ihr versperrt. «Bei den Spielen in unserer Fussballliga dürfen keine Männer zuschauen», sagt sie. «Es geht wie auf einem Flughafen zu. Kameras und Handys sind nicht erlaubt. Und meist verhindern Eltern schon sehr früh, dass ihre Töchter regelmässig trainieren.»

Die Frau wird in Katar vor allem als Mutter gesehen

Der Sport ist in Katar ein Sinnbild für die Stellung der Frauen. Häufig müssen sie die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. Zum Beispiel, wenn sie heiraten oder in einem öffentlichen Job arbeiten wollen. Es seien Gesetze des Staates, die in weiten Teilen der patriarchalen Gesellschaft auf Zustimmung stossen, sagt Anna Reuss, die an der Universität der Bundeswehr in München zur Aussenpolitik der Golfstaaten forscht: «In Katar gilt die Familie meist als kleinste gemeinsame soziale Einheit. Auch wenn die Frau viel zum Einkommen beiträgt, wird sie nicht als Familienoberhaupt angesehen, sondern eher als Mutter.»

Sportliche Betätigungen für Frauen haben in Katar nicht den Stellenwert wie in westlichen Gesellschaften. Jahrzehnte lang existierten kaum Räume, in denen sie ohne traditionelle Bekleidung verausgaben konnten, auch deshalb leiden sie häufig an Übergewicht, Diabetes und Depressionen. «Viele Menschen befürchten die Erosion dieser traditionellen Identitätsmuster», sagt Anna Reuss. Sportlerinnen gelten in Katar mitunter als «starke Frauen im negativen Sinne».

Anna Reuss
Bild: PD

Die katarische Regierung will dieser Wahrnehmung etwas entgegensetzen. Im geopolitischen Wettstreit mit den Nachbarn Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten ist Katar auf Netzwerke mit den USA und Europa angewiesen. Daher pflegt das Regime das Narrativ der «starken Frau» und verweist auf weibliche Führungskräfte in Verwaltung und Kultur. «Der katarische Staat will ein nuanciertes Bild von mündigen Frauen zeichnen», sagt Anna Reuss. «Bilder von schwitzenden Fussballerinnen mit Pferdeschwanz, die sich nach einem Tor in den Armen liegen, können dabei helfen.»

Die Leichtathletin sagt, die Fortschritte Katars würden nicht gewürdigt

Positiv besetzte Bilder, die um die Welt gehen. Auch aus diesem Grund organisiert das autoritär regierte Katar ein Sportereignis nach dem anderem, zum Beispiel die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Doha 2019. Damals mit dabei: die katarische Hürdenläuferin Mariam Farid. Sie erinnert sich gut daran, wie nach ihrem Rennen gut zwanzig westliche Journalisten auf sie zukamen. «Ich hatte keine Chance auf eine Medaille, aber ich habe meine persönliche Bestleistung getoppt», sagt sie. Trotzdem interessierten sich die Reporter nur für ihr Kopftuch.

Musa bint Nasser al-Missned macht sich für Frauensport stark.
Bild: AP

Mariam Farid ist eine redegewandte Frau von Mitte zwanzig. Das Interview gibt sie in einem Krankenhaus von Doha. Nach ihrem Kommunikationsstudium arbeitet sie hier in der Presseabteilung. Doch ihre Leidenschaft gehört dem Sport. Mariam Farid spielte Fussball, ging Schwimmen, entschied sich für die Leichtathletik. Sie spricht vier Sprachen, und so wurde sie zu einer offiziellen Botschafterin für die Leichtathletik-WM 2019 ernannt: «Viele Leute im Westen halten uns vor, dass der Nahe Osten verschlossen ist und dass wir uns öffnen sollen. Doch dieselben Leute wollen Zeichen des Fortschritts nicht anerkennen. Aber durch den Sport habe die Macht, solche Stereotype zu brechen.»

Viele Menschen in Europa nehmen den Nahen Osten als einheitliche Region wahr. Mit Katar verbinden sie Wüste, Kamele, Reichtum durch Öl. Und Frauen, die es – wenn überhaupt – gegen alle Widrigkeiten an die Spitze schaffen. Mariam Farid zeigt ihren mehr als 100000 Followern auf Instagram, dass die Wirklichkeit komplizierter ist. Sie weiss, welche Fragen von westlichen Journalisten kommen könnten, daher gibt sie die Antwort schon vorher: «Früher habe ich im Sport auf den Hidschab verzichtet, aber damit fühlte ich mich nicht so wohl. Jetzt trage ich ihn, ich bin da eben anders, und darauf bin ich stolz.»

Um die WM zu bekommen, musste zuerst ein katarisches Frauenteam her

Die Möglichkeiten, die Mariam Farid im Sport hat, waren für ihre Mutter und ihre Grossmütter undenkbar. Spät, ab den 1990er Jahren wollte sich das einst verschlafene Katar aus der wirtschaftlichen und militärischen Abhängigkeit des Nachbarn Saudi-Arabien lösen. Das Emirat öffnete sich für Investoren und bemühte sich um Sportereignisse. Anfang des Jahrtausends brachte Musa bint Nasser al-Missned, die zweite Ehefrau des damaligen Emirs, die Gründung des Frauen-Sportkomitees auf den Weg. Diese Organisation sollte sich «für die Gleichstellung der Geschlechter im Sport» einsetzen.

Das grosse Ziel Katars war schon damals die Ausrichtung der Fussball-WM der Männer. Doch für einen Zuschlag des Weltverbandes Fifa mussten Bewerber die Förderung von Mädchen und Frauen nachweisen. So wurde 2009 in Katar eine Fussball-Auswahl der Frauen gegründet. Im Oktober 2010 bestritt sie ihr erstes Länderspiel. Anderthalb Monate später wurde die Männer-WM 2022 nach Katar vergeben.

Sport-Ausbildungsstätte der Superlative: Die Aspire Academy in Doha.
Bild: Alamy Stock Photo

In Doha befindet sich die «Aspire Academy», eine der modernsten Sportakademien der Welt, mit einem Fokus auf männliche Talente. Das Frauen-Sportkomitee ist ausserhalb der Akademie untergebracht, in einer ehemaligen Schule. An den Wänden hängen Fotos von Sportlerinnen, in Vitrinen sind Pokale und Medaillen ausgestellt. Doch wie ernsthaft ist die Förderung? Das Fussball-Nationalteam der Frauen ist kaum aktiv und wird auch nicht in der Weltrangliste der Fifa geführt.

Nach Massstäben Europas gilt Katar als rückständig. Nach Massstäben der Golfregion gilt Katar als Fortschrittsmodell, denn etwa im Iran wird die Teilhabe von Frauen noch stärker eingeschränkt. Seit Jahren nutzen europäische Frauenrechtsgruppen den Fussball zur Stärkung von Frauenrechten im Nahen Osten, sie heissen «Discover Football» oder «Right To Play». Gern würden diese Gruppen auch in Katar Netzwerke knüpfen. Doch das Herrscherhaus duldet keine kritische Zivilgesellschaft. Frauenrechtsorganisationen in Doha? Sind noch pure Utopie.

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