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WM 2022

Englands verflossene Liebe zum Trainer

Bei den letzten zwei grossen Turnieren war England erfolgreich wie lange nicht. Bei den "Three Lions" scheint indes einiges im Argen zu liegen, und Coach Gareth Southgate dürfte nur der Titel retten.
Bild: KEYSTONE/AP/ALASTAIR GRANT

Als Harry Maguire seinen Penalty verwandelt, fehlt wenig zum ganz grossen Triumph. 2:1 liegt England da im EM-Final im Juli letzten Jahres im Penaltyschiessen in Front. Doch Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka scheitern im Wembley mit ihren Versuchen allesamt, und am Ende jubelt Italien.

So nahe an einem Titel war England seit seinem Sieg an der Heim-WM 1966 nie mehr gewesen, und wer die Entwicklung des Teams aus der Ferne betrachtet, kann nach dem Halbfinal-Einzug an der WM 2018 in Russland zum Schluss kommen, dass im Mutterland des Fussballs eine der besten Mannschaften der Welt gewachsen ist, die nicht nur davon redet, um Titel mitspielen zu wollen, sondern es auch wirklich tut. Entsprechend scheint es nicht unlogisch, zu meinen, den "Three Lions" werde auf der Insel mit viel Enthusiasmus und Zuversicht begegnet.

So einfach ist es allerdings nicht. Die Euphorie der EM ist längst wieder in Skepsis und Unzufriedenheit umgeschwenkt. Und diese Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung bekommt keiner so stark zu spüren wie Nationaltrainer Gareth Southgate.

Die Versöhnung 2018

Seit September 2016 ist der 52-Jährige im Amt. Erst war er eine Notlösung, als er für den nach nur einem Spiel entlassenen Sam Allardyce übernahm. Zwei Monate später wurde aus dem Interimstrainer der Cheftrainer. Nach der WM 2018, bei der die Engländer im Achtelfinal gegen Kolumbien erstmals überhaupt an einer Endrunde ein Penaltyschiessen gewinnen konnten und anschliessend nach dem Viertelfinalsieg gegen Schweden im Halbfinal an Kroatien erst in der Verlängerung scheiterten, gehörte Southgate zu den beliebtesten Personen Englands.

Seine Weste, die er über einem Hemd zu tragen pflegte, wurde nicht nur zu seinem Markenzeichen, sondern auch zum Verkaufsschlager, weil viele zumindest ein bisschen so adrett und erfolgreich sein wollten wie der frühere Innenverteidiger, der 57 Mal selber für England aufgelaufen ist.

Das Land schien sich endgültig versöhnt zu haben mit dem Mann, der mit seinem entscheidenden Fehlschuss im Penaltyschiessen im EM-Halbfinal 1996 im Wembley gegen Deutschland eine gefühlte Staatstrauer ausgelöst hatte.

Doch mittlerweile ist aus "Everybody’s Darling" ein Trainer geworden, der von vielen Fans hauptverantwortlich dafür gemacht wird, dass England seit nunmehr 56 Jahren ohne Titel dasteht. Bei dieser Beurteilung helfen Southgate auch die nackten Zahlen nicht: Seit seinem Amtsantritt hat er fünf K.o.-Spiele bei grossen Turnieren gewonnen; in den 66 Jahren zuvor hatte England nur neun gewonnen. In den letzten sechs Jahren hat Southgate England in zwei Halbfinalspiele geführt; in den 66 Jahren davor hatte England nur drei erreicht. Im Vergleich zu seinen Vorgängern ist seine Bilanz sehr gut. Nur Sir Alf Ramsey, der Coach beim WM-Triumph, war erfolgreicher.

Der Tiefpunkt gegen Ungarn

Southgate sieht sich mit der Behauptung konfrontiert, England habe bei Auslosungen Glück gehabt. Und ihm wird vorgeworfen, er agiere zu defensiv und schaffe es so nicht, die Spieler ihrem Potenzial entsprechend einzusetzen. Wer Harry Kane, Raheem Sterling, Phil Foden, Mason Mount, Jack Grealish, Bukayo Saka, Marcus Rashford und Jadon Sancho in seiner Offensive weiss, schürt die Erwartung nach torreichem Spektakel, doch das war noch nie Southgates Spiel.

Sowohl gegen Kroatien als auch gegen Italien ging England in Führung, schaffte es jedoch nicht, die richtige Balance zwischen defensiver Stabilität und offensiver Entlastung zu finden und ebnete den Gegnern durch diese Passivität den Weg zurück in die Partie und damit in den WM-Final respektive zum EM-Titel. Es ist ein weiterer Kritikpunkt, mit dem sich Southgate konfrontiert sieht, zusätzlich dazu, dass er wie bei Maguire oder Kyle Walker bisweilen auf Spieler setzt, die in ihren Klubs nur wenig spielen und entsprechend ausser Form sind.

Einen negativen Kulminationspunkt erlebte die Unzufriedenheit der englischen Fans Mitte Juni in der Nations League. Nach dem 0:4 gegen Ungarn, der höchsten Heimniederlage seit 1928, hallten laute Buhrufe durchs Wembley, und als nach der 0:1-Niederlage gegen Italien im September der Abstieg aus der höchsten Liga feststand, stellte sich endgültig die Frage, ob England an der WM in Katar, wo Partien gegen den Iran, die USA und Wales warten, wirklich in der Verfassung sein wird, wieder um den Titel zu spielen. Southgate besitzt beim englischen Verband einen Vertrag bis Ende 2024. In englischen Medien werden jedoch längst mögliche Nachfolger herumgereicht, sollte der Wüstenstaat für ihn Endstation bedeuten. Darauf angesprochen, meinte Southgate unlängst: "Ich weiss, dass ich dafür beurteilt werde, was an der WM passiert. Ich bin nicht so arrogant, zu glauben, mein Vertrag werde mich davor schützen." Diesmal dürfte für Southgate nur der Titel gut genug sein. (sda)

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