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Fussball-WM

Einst verspottet, nun unverzichtbar: Der lange Leidensweg von Olivier Giroud zum Rekord-Torschützen

Olivier Giroud erlebt im Spätherbst seiner Karriere einen zweiten Frühling. Der Spielstil des Stürmers ist unkonventionell und wertvoll. Trotzt permanenter Kritik aus der Heimat ist er mental stark geblieben.

Er macht’s mit Kraft und Leidenschaft: Frankreichs Rekordtorschütze Olivier Giroud.
Bild: Tolga Bozoglu / EPA

Die Finger formt Olivier Giroud zur Zahl 52 und hält sie stolz in die Kamera. Mit seinem Tor im Achtelfinal gegen Polen überholt der Stürmer den bisherigen Rekord-Torschützen Thierry Henry (51). Ein Moment für die Ewigkeit. Die Replik des französischen Verbandes auf diesen historischen Augenblick folgt sogleich. «Allein auf seinem Thron», schreibt der Verband, verneigt sich und setzt dem Altmeister in einer Illustration die Krone auf.

Giroud ist am Ziel seiner Träume angekommen. Eine Marke, die er sich schon lange als Ziel gesetzt hatte. In Anbetracht des riesigen Reservoirs an Stürmern, aus dem «Les Bleus» schöpfen können, ist die Glanztat noch bemerkenswerter. Der Bestwert ist aber mehr als eine nackte Zahl. Für Giroud ist es ein Gefühl von Genugtuung, eine Form von Anerkennung, die ihm über Jahre verwehrt wurde, vor allem von den Landsleuten.

Das Fussballvolk hat sich mit dem Angreifer schon immer schwergetan. Ein Mann, der polarisiert und aneckt. Absolute Rückendeckung hat ihm in seinem Heimatland immer gefehlt, er war nie ein Liebling, sondern der «König» der Kontroverse. Patrice Evra, der frühere Captain der französischen Nationalmannschaft, sagte mal folgenden Satz:

«Wir sind ein Land, das Kontroversen liebt, es ist herrlich. Wir reden gerne über alles Mögliche, aber wir müssen uns darauf konzentrieren, was auf dem Platz passiert.»

Wie 2016: Giroud profitiert von Benzemas Abwesenheit

Olivier Giroud wurde 2016 kurz vor der Heim-EM vom eigenen Anhang ausgebuht. Doch das war nur die Spitze des Eisbergs. In den sozialen Medien wurde dazu aufgerufen, man solle beten, dass er sich bis zum Turnier verletze. Das hatte auch damit zu tun, dass die Fans Sturm-Konkurrent Karim Benzema bevorzugten. Dieser wurde von Trainer Didier Deschamps nicht berücksichtigt, da er verdächtigt wurde, im Juni 2015 bei einer versuchten Erpressung des früheren Mitspielers aus dem Nationalteam, Mathieu Valbuena, als Komplize gehandelt zu haben.

Mittlerweile hat Benzema die Haftstrafe von einem Jahr auf Bewährung sowie die Busse von 75'000 Euro akzeptiert. ­Giroud musste bei den Fans für Benzemas Abwesenheit «büssen», obwohl er sich in guter Form präsentierte. Nun profitiert Giroud erneut vom Fehlen Benzemas. Der Weltfussballer wäre im Sturmzentrum gesetzt gewesen. Giroud hätte die Rolle als Joker einnehmen müssen. Doch Benzema erlitt kurz vor Turnierbeginn eine Muskelverletzung

Pechvogel Benzema drückt die Daumen

Der Ausfall von Karim Benzema versetzte Frankreich kurz vor Turnierstart in eine Schockstarre. Der Ballon-d’Or-Gewinner vergrösserte damit das ohnehin schon prominent bestückte Lazarett. Der 34-Jährige reiste zurück nach Madrid. Diverse Medien spekulierten über ein Blitz-Comeback. Regeltechnisch wäre es erlaubt gewesen, da sein Name noch immer auf der offiziellen Kaderliste steht, die der Fifa vorliegt. Trainer Deschamps betonte aber: «Das ist wirklich nichts, worüber ich nachdenke.»

Mittlerweile ist eine Rückkehr definitiv vom Tisch, obwohl er bei den Königlichen das Training wieder aufgenommen hatte. Für seine Teamkollegen gibt’s Support: «Kommt schon Jungs, noch zwei Spiele, ihr habt es fast geschafft», schrieb Benzema auf Instagram und ergänzte hinterher: «Ich stehe hinter euch. Let’s go.» Deschamps warnt vor den Marokkanern: «Sie haben einige der besten Teams der Welt geschlagen. Sie haben diese Siege nicht gestohlen, sie haben es verdient.» Frankreich wäre erst die dritte Nation, die ihren Titel erfolgreich verteidigen kann. Zuvor gelang dieses Kunststück lediglich Italien (1934 und 1938) und Brasilien (1958 und 1962). (pz)

Giroud hat sich in seinem Profileben eine dicke Haut zugelegt. Er hat sich von kritischen, teils abschätzigen Kommentaren weder provozieren noch unterkriegen lassen. Er ist damit fertig geworden, ohne mentalen Knacks. Sein eiserner Wille und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten haben ihn zu jenem erfolgreichen Spieler geformt, der er heute ist. Den Ressentiments hat er keinen Raum gegeben.

Sein Selbstvertrauen ist durch die Erfahrungen stärker geworden. Rachegelüste, um zu einem Rundumschlag auszuholen, sind nie in ihm aufgestiegen. «Ich werde immer kritisiert», sagte er in einem Interview. Ganz anders ist sein Status innerhalb des Teams: Dort geniesst Giroud viel Re­spekt. So meldete sich kürzlich Fürsprecher Adrien Rabiot zu Wort:

«Es ist unglaublich, was er alles durchgemacht hat, um an diesen Punkt zu kommen.»

Der Spielstil: ein Graus für den Fussballästheten

Mit Kritik und sportlichen Rückschlägen musste sich der Stürmer schon früh in seiner Laufbahn auseinandersetzen. Von einer Karriere als Profifussballer wurde ihm abgeraten, weil das Talent fehle. Aufgeben war aber nie eine Option. In den Niederungen des französischen Fussballs kämpft er sich nach oben.

Perfekte Körperbeherrschung: Olivier Giroud.
Bild: Bild: Luca Bruno / AP

Von der dritthöchsten Liga schafft er den Sprung in die Ligue1. Dort ist er ein wichtiges Puzzleteil bei einer der grössten Sensationen im französischen Fussball. Er gewinnt mit Montpellier die Meisterschaft und wird Torschützenkönig. Weitere Höhepunkte folgen: Cham­pions-League- und Europa-League-Sieger, französischer Meister, italienischer Meister.

Vor kurzem hat Liverpool-Abwehrchef Virgil van Dijk in einer TV-Sendung gesagt: «Ich hatte immer das Gefühl, ihn in der Hand zu haben, aber irgendwie schaffte er es immer, ein Tor gegen uns zu erzielen.» Der Holländer bringt damit die Stärke des Angreifers auf den Punkt. Giroud ist kampf- und zweikampfstark. Dagegen ärgern sich Fussballästheten über seinen Spielstil. Für sie ein Graus. Er wirkt in seinen Bewegungen behäbig, unbeweglich, hölzern und langsam.

Entscheidende Szene im Viertelfinal: Olivier Giroud setzt sich im Kopfballduell gegen Harry Maguire durch.
Bild: Bild: Christophe Ena / AP

Die britische Zeitung «The Telegraph» hat mal vor sechs Jahren Daten ausgewertet und die langsamsten Spieler der Premier League «gekürt». Giroud landete auf Rang fünf. Und eine nicht ganz ernst gemeinte Umfrage eines Schweizer Onlineportals rief die Leserinnen und Leser dazu auf, aufzuzählen, wer oder was langsamer ist als Giroud. Vorschläge folgten zuhauf: Johann Schneider-Ammann, wenn er auf den Punkt kommen sollte; der Bau des Berliner Flughafens; Polonaise im Altersheim. Giroud hat solche Vergleiche immer an sich abprallen lassen und die Antwort auf dem Platz gegeben.

Zwist zwischen Giroud und Mbappé ist ausgeräumt

Trotz 1,93 Meter Körpergrösse behandelt der Altmeister das Spielgerät erstaunlich geschmeidig. Er kann den Ball von seinen Gegenspielern abschirmen und punktgenau weiterleiten. Auf dem Fussballplatz mit perfekt gestylter Frisur und Bart unterwegs, würde der Modellathlet auch auf dem Laufsteg eine gute Falle machen.

Eine grosse Zahl seiner Tore hat der «König der Lüfte» mit dem Kopf erzielt dank seiner Sprungkraft und einem guten Riecher für das Positionsspiel. Er ist ein typischer Strafraumstürmer, die kaum noch zu sehen sind. Und er verrichtet auch defensive Arbeit, weil sich Sturmpartner Kylian Mbappé oft zu schade ist, den Rückwärtsgang einzulegen. Das 13 Jahre jüngere Jahrhunderttalent und Giroud harmonieren bestens.

Harmoniebedürftig: Kylian Mbappé und Olivier Giroud.
Bild: Bild: Ali Haider / EPA

Das war nicht immer so: Vor der EM 2021 beschwerte sich der Oldie, dass er das Gefühl habe, einige Kollegen würden ihm absichtlich den Ball nicht zuspielen. Mbappé bezog die Aussagen auf sich und wollte mit einer eigens einberufenen Pressekonferenz zum Gegenschlag ausholen, was Brückenbauer und Mediator Deschamps verhinderte.

Giroud ist ein Musterprofi. Er holt das Maximum aus seinem Talent heraus. Erst mit 25 Jahren im Nationalteam debütiert, steht er im Zenit seines Schaffens. Fragen nach einem baldigen Karrierenende pariert er mit einem verschmitzten ­Lächeln:

«Ich spiele wirklich, als wäre ich 20. Mit der Freude eines Kindes. Ich bin hungrig nach Toren und mein Körper scheint es zu vertragen.»

Am Mittwoch wartet im WM-Halbfinal Favoritenschreck Marokko. Die Reise soll erst im Final zu Ende gehen. «Unsere Mentalität erinnert mich an den WM-Titel 2018», sagt Giroud. Kein schlechtes Omen.

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