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Sport

Der Schweizer Sport sucht ein Wertesystem, mit dem Essstörungen verhindert werden können

Swiss Olympic und das Bundesamt für Sport nehmen das von Biathletin Lena Häcki an die Öffentlichkeit getragene Thema auf und propagieren einen Kulturwandel für den Leistungssport.
Maja Neuenschwander ist bei Swiss Olympic für die Thematik verantwortlich. Sie weiss als ehemalige Marathonläuferin ganz genau, wie schwierig der Umgang mit ungesundem Essverhalten ist. (ZVG)

Rainer Sommerhalder

Leichtathletin Angelica Moser traute sich, Biathletin Lena Häcki traute sich – in der Öffentlichkeit über ihre Essstörungen zu sprechen. Es sind eindrückliche Botschaften zu einer heimtückischen Krankheit. Die auch im Schweizer Leistungssport viel mehr verbreitet ist, als Aussenstehende dies vermuten.

Lena Häcki erklärt, dass sie sich mit ihrem Essverhalten verbessern wollte, aber dadurch schlechter geworden ist. Und die 26-Jährige sagt auch: «Mir wurde im Training schwindlig, weil ich in den Tagen zuvor so wenig gegessen habe, dass ich keine Energie mehr hatte.» Eine Essstörung kann noch viel dramatischere Auswirkungen auf die Gesundheit haben.

Auch Sportmediziner bestätigen die Häufigkeit der Krankheit unter Athletinnen und Athleten. Sie warnen davor, dass sich die gesundheitliche Situation der Betroffenen nach dem Sport verschlechtern kann, wenn das Problem nicht frühzeitig angegangen ist. Und sie fordern das Umfeld auf, nicht länger wegzuschauen. Was also machen der Dachverband Swiss Olympic und das für die Ausbildung von Trainern verantwortliche Bundesamt für Sport?

Swiss Olympic macht das Thema zum Schwerpunkt

Bei Swiss Olympic ist das Thema Essstörungen im Projekt «Frau und Spitzensport» bei Maja Neuenschwander angesiedelt. Das macht insofern Sinn, als dass Athletinnen gemäss Studien gut 40 Prozent häufiger von der Krankheit betroffen sind als Athleten. Neuenschwander weiss als langjährige Langstreckenläuferin aus eigener Erfahrung, welch schmaler Grat im Leistungssport zwischen gesunder und ungesunder Trainingsoptimierung liegt.

Die 42-Jährige sagt, Essstörungen seien «ein grosses Tabuthema, noch deutlich mehr als etwa der weibliche Zyklus». Es geht also darum, Hemmungen abzubauen und die Thematik konkret anzusprechen. Die Bernerin freut sich enorm über den Mut von Häcki oder Moser. «Wenn bekannte Betroffene das Thema öffentlich machen, erzielt dies am meisten Wirkung – gerade bei anderen Sportlerinnen und Sportlern.»

Um zu sensibilisieren und den Fokus auf das Thema zu legen, wird Swiss Olympic die Gewichtsthematik in den kommenden Wochen zum Schwerpunkt machen. Im Mai erscheint eine neue Infografik über die Folgen von ungesundem Essverhalten. Auch eine Podcast-Serie wird zum Thema produziert und im Juni ein Webinar durchgeführt.

Die Aktivitäten werden unter anderem über die sozialen Medien innerhalb der Sport-Community verbreitet. Auch der Jahreskongress der Sportmedizin widmet sich im Herbst dem Thema Frau und Sport.

«Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, wie viel Energie Athletinnen und Athleten benötigen, um ihre maximale Leistung abzurufen. Zum Bedarf bestehen vielerorts noch immer viele Mythen und eine falsche Wahrnehmung. Wir müssen das Mindset des Sportlers korrigieren.» Man strebe noch viel zu oft nach einem minimalistischen Idealbild des eigenen Körpers.

Baspo setzt viel stärker auf die Trainerpersönlichkeit

Maja Neuenschwander spricht von einem notwendigen Kulturwandel – auch bei Betreuungspersonen und den Sportorganisationen. Dies ist auch Mark Wolf bewusst. Der Bündner ist beim Bundesamt für Sport verantwortliche für die Trainerbildung. . Er sagt, dass es darum gehe, dieser Gruppe das notwendige Wissen zu vermitteln, um im Thema sattelfest zu sein. Er erkennt ein grosses Interesse und sehe, dass Ernährung im Sport ein sehr populärer Bereich bei den Weiterbildungsthemen sei.

Noch viel entscheidender als die Fachkompetenz sei die Sozialkompetenz. Wie und wann spreche ich das Thema an? Wie erzeuge ich im Umgang mit Athletinnen und Athleten eine natürliche Offenheit? Wolf sagt, dass man die Trainerausbildung in Magglingen vor vier Jahren neu strukturiert habe. «Die Trainerpersönlichkeit und damit die Selbst- und Sozialkompetenz stehen heute im Mittelpunkt. In diesen Bereich investieren wir viel».

Wolf ist aber auch selbstkritisch und sagt, man könne noch mehr machen, um auf die Thematik Essstörungen einzugehen. Der Bereich Moral und Ethik sei aktuell auch in der Aus- und Weiterbildung von Trainerinnen und Trainern ein Riesenthema.

Wolf bricht gerade hier für die Coaches eine Lanze: «Der Trainer wird derzeit oft als Täter wahrgenommen, obwohl er manchmal auch ein Opfer des Systems ist. Denn es ist letztlich entscheidend, wie er im System eingebettet ist, damit er seinen Job gut machen kann.»

Die aktuelle Diskussion diene deshalb auch dazu, «ein Wertesystem zu definieren, das zum Schweizer Leistungssport passt». Neuenschwander und Wolf sind sich einig, dass gehäuft auftretende Essstörungen in einem solchen System nichts zu suchen haben.

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