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Sport

Der neue Ambri-Tempel ist da: Beim Kultklub beginnt eine neue Zeitrechnung

Von der legendären Valascia ins neue Stadion: Der lang ersehnte Umzug ist für Ambri-Piotta ein Quantensprung in die Zukunft.
Das Stadion Nuova Valascia in Ambri.  (Bilder: Urs Lindt / Freshfocus (Ambri, 20. August 2021))
Architekt Mario Botta (links) und Präsident Filippo Lombardi in der neuen Arena. 

Othmar von Matt

Othmar von Matt

Othmar von Matt

Noch pilgern viele zur Valascia. Meist haben sie aber ein deutsches Kennzeichen am Wagen. Deutsche Eishockeyfans trauern um das Kultstadion – vor allem Fans der Eisbären Berlin. Mit ihnen pflegt Ambri eine Fanfreundschaft.

Fans aus der Schweiz hingegen wallfahren inzwischen auf das Flugfeld. Dort schmiegt sich, in knapp 700 Meter Entfernung von der Valascia, die neue multifunktionale Arena des HC Ambri-Piotta an die Autobahn A2. Sie steht kurz vor ihrer Premiere.

Das neue Stadion hat eine Euphorie ausgelöst. Massen von Ambri-Fans sahen es sich vor Ort schon selbst an. Und erstmals überhaupt in seiner Geschichte verkaufte Ambri über 4000 Saisonkarten. Obwohl die Kampagne dazu eben erst richtig begonnen hat.

«Das Stadion ist der Hammer», sagt Michael Brunner, Präsident des Ambri-Fanklub Ostschweiz. Er wurde am 13. März neu gegründet. Die Hälfte der 70 Mitglieder nahmen an einer Stadionbesichtigung teil. «Sie waren sehr begeistert», sagt Brunner.

Stararchitekt Mario Botta hat eine Kathedrale der Hoffnung gebaut. Sie soll der Leventina als Randregion Schub geben. Vor allem aber bietet sie dem HC Ambri-Piotta, dem Aushängeschild dieser Region, völlig neue Per­spektiven für die Zukunft.

Ambri zügelt vom ältesten Stadion der Schweiz (1957) ins neuste (2021). 52,5 Millionen Franken kostet es, inklusive Abbau der Valascia. «Die neue Halle ist überlebenswichtig», sagt Präsident Filippo Lombardi. «Ohne sie wäre Ambri gestorben.» Sie erfüllt die Normen, bietet Zuschauern und Spielern den Komfort, den sie heute einfordern.

Das Stadion bringt vier Millionen zusätzliche Einnahmen

Die neue Halle ist ein Quantensprung für Ambri. Der Klub kann nun die Einnahmen generieren, die er für die National League braucht. Lombardi rechnet mittelfristig mit vier Millionen zusätzlichen Einnahmen. Zwei davon braucht er für Zinsen an die Banken und neue Mitarbeiter. Die zwei restlichen Millionen will er in die erste Mannschaft investieren.

«Dieser Mann hat daran geglaubt», sagt Mario Botta beim Fototermin – und zeigt auf Lombardi –, «dass es trotz Globalisierung noch möglich ist, einen solchen Bau in einem kleinen, verlorenen Dorf in den Bergen aufzustellen.» Lombardi lacht – und schweigt.

Botta ist selbst Ambri-Fan. Als kleiner Junge fuhr er jeweils mit dem Velo die drei Kilometer von Genestrerio nach Mendrisio. Dort stieg er in den Zug um für die 94 Kilometer nach Ambri, vorbei an Lugano, wo Ambris grosser Rivale in der Resega spielte. Das war damals ein Sonntagsausflug.

Botta wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. «Als arme Bauern solidarisierten wir uns mit dem armen Ambri gegen das reiche, städtische Lugano», erzählte er einmal. Der Bau der neuen Halle war für Botta deshalb auch eine Herzensangelegenheit.

Einzigartig an der neuen Arena ist ihre Kommunikation mit der Aussenwelt. Auf der zweiten Ebene sieht man über hohe, schmale Fenster die Berge, den Gotthard und das Dorf Ambri. Richtung Südosten gibt eine grosszügige Fensterfront den Blick ganz frei.

Frei auf die Leventina, aber auch auf die Autos, die nach Süden rollen – hinter den Horizont, wo sich ein Sehnsuchtsraum verbirgt, der als mächtigste Strahlungsquelle der Welt wahrgenommen wird: das Mittelmeer.

Das Stadion, das im Dialog steht mit dem Mittelmeer

Ambris neues Stadion stehe «im Dialog mit dem Mittelmeer», sagt Botta. «Weil der Fluss der Autos vom Gotthard in den Süden das Mittelmeer erahnen lässt.» Damit trifft er seiner Meinung nach die Gemütslage der Fans.

«Dass sie Ambri so stark unterstützen, hat mir ihrer tiefen Verwurzelung in der Vergangenheit zu tun», sagt er. «Sie ziehen aus diesen Werten Hoffnung.» Genau diese Hoffnung vermittle das neue Stadion, «diese Kathedrale» am Weg in die mediterrane Welt. Das neue Stadion ist für ihn «ein archäologisches Projekt der Gegenwart», wie er sagt. Es saugt die soziologische Situation auf um Ambri, den Klub der Herzen, wie er genannt wird.

Botta sieht das neue Stadion auch als Signal an die Leventina und an andere Täler. «Sie haben ein Recht auf Leben und Überleben in der Globalisierung», sagt er. Dieses Recht sei nicht nur den urbanen Zentren vorbehalten, die auf Kosten der Randregionen wachsen. Das Stadion stehe direkt an der Autobahn, aber auch in der Leere des Flugplatzes. Es schlage damit ein neues Kapitel auf in der Geschichte der Leventina. «Denn es zeigt», sagt Botta: «Hier gibt es Platz für Neues.»

Für ihn gibt es dafür keinen besseren Botschafter als der HC Ambri-Piotta. «Er ist ein Schweizer Wunder», sagt Botta. Ambri und Piotta, zwei kleine Dörfer, hätten einen Eishockeyklub gegründet. «Seither beweisen sie, dass auch Kleine in einen Wettbewerb mit Grossen wie Zürich, Bern, Lausanne oder Genf treten können.»

Kann Ambri die Stimmung aus der Valascia einfach exportieren?

Eine Frage aber stellen sich viele: Kann Ambri seine einzigartige Stimmung aus der mystischen Valascia wirklich einige hundert Meter weiter in die Arena an der A2 exportieren? Am 6. April fand das letzte Spiel statt in der Valascia. Sie stand für Eishockey in seiner ursprünglichsten Form. Die Winter in Ambri (1003 Meter über Meer) sind lang, rau und kalt. Im November berührt kein Sonnenstrahl das Dorf.

So fühlte sich Eishockey in der ­Valascia an. Da sie hinten und vorne offen war, wurde es in der Halle oft bis zu minus 17 Grad kalt. Charakteristisch für ein Spiel im tiefen Winter war die reine und trockene Luft. Sie wärmte die Herzen der Zuschauer. In der Valascia gab es keine Shows mit Musik und Videos wie in Zürich, Zug, Bern, Genf oder Lausanne. Die Fans waren die Show – mit ihren vielfältigen, oft melancholischen Gesängen. Und mit «La Montanara» als einzigartiger Hymne – sofern denn Ambri gewann:

«Wenn du Eishockey pur erleben willst, dann musst du nach Ambri fahren», hatte Marc Crawford gesagt, der mit den ZSC Lions Schweizer Meister und mit den Colorado Avalanche Stanley-Cup-Sieger geworden war. Und der US-Star Auston Matthews, der bei den ZSC Lions gespielt hatte, sagte auf die Frage von SRF, wo es bisher am lautesten war, ohne zu zögern: «In Ambri. Da war es auch am kältesten.»

Kann eine solche Ambiance wirklich gezügelt werden? Natürlich werde es für Ambri-Fans in der neuen Halle «zu warm», sagt Philipp Schärli, Präsident des Ambri-Fanklubs Luzern und Redaktor des Fanmagazins Gazzetta dell’Ambri. «Wir sind aber zuversichtlich, dass wir das neue Stadion wieder zu einem magischen Ort machen können.» In der neuen Arena seien ja ­dieselben Menschen, die schon die ­Va­lascia mit ihren Emotionen und ihrer Leidenschaft gefüllt hätten.

Eine Sorge bleibt: Ist das Stadion am 11. September bereit?

Eine grosse Sorge bleibt aber noch: Wird das Stadion tatsächlich bereit sein für seine Premiere am 11. September gegen Fribourg-Gottéron? Noch wird fieberhaft gearbeitet. So wie auch am Freitag, als sich Präsident Lombardi und Architekt Botta zum Foto für die «Schweiz am Wochenende» treffen. Die Autos stehen in doppelter Reihe an der Strasse, die am Stadion vorbeiführt. Zwei Bagger planieren die Vorplätze, im Innern steht ein grosser Kran. Handwerker arbeiten emsig in den Garderoben, den vier Restaurants, den fünf Bars, den acht Verpflegungsständen und den elf Logen, welche die neue Arena bietet. Nächste Woche soll der grosse Vorplatz asphaltiert werden.

Dennoch zweifelt Architekt Mario Botta. Der grosse Videowürfel ist noch nicht in Ambri angekommen. Er steckt irgendwo fest. Es gibt offenbar Probleme mit Grenzformalitäten.

Fan Michael Brunner beobachtet die Situation sehr genau. «Ich bin skeptisch, dass das Stadion am 11. September wirklich bereit ist für das erste Heimspiel», sagt er. Und er fragt sich: Sollte Ambri nicht besser zuerst einige Auswärtsspiele absolvieren? So, wie dies letzte Saison auch Davos und ­Fribourg taten. Für die Premiere erwartet Ambri 6775 Zuschauer. «Es wäre sehr schade, wenn man zwar ein volles Haus hat», sagt Brunner, «aber viele Leute verärgert aufgrund von organisatorischen oder baulichen Mängeln.»

Für Lombardi ist die Situation klar. «Das Stadion muss fertig werden», sagt er. «Wir haben keine Alternativen. Die Banden aus der Valascia sind bereits im neuen Stadion installiert.»

Philipp Schärli, den Luzerner Fan, überrascht das alles nicht. «Dass es mit dem Stadionbau zeitlich eng wird», sagt er, «gehört zu Ambri.» Er bleibt gelassen. Es kam es immer gut in 84 Jahren Ambri. Irgendwie.

Die Bilder des Stadions:

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