Im Frühjahr 1958 begann ich in Rickenbach meine Ausbildung zum Primarlehrer. Lehrpersonen waren dringend gesucht, wie heute. Viele ältere Lehrpersonen gingen in Pension, geburtenstarke Jahrgänge traten in die Schule ein, immer mehr Schülerinnen und Schüler besuchten ein 8., ein 9. Schuljahr, obligatorisch waren damals sieben.
Für einen Arbeitersohn wie mich lag es damals näher, ein Lehrerseminar zu besuchen statt ein Gymnasium. Mit 20 Jahren hatte man nach dem Semi einen Beruf und stand auf eigenen Füssen. Eine Berufslehre hätte nicht viel kürzer gedauert, ein Studium nach der Matura aber schon.
Unsere Semiklasse 1958–1962 zählte 27 Studierende, alle fast ausschliesslich in Arbeiter-, Bauern- und Kleingewerbefamilien aufgewachsen. Der Lehrerberuf verhiess für Arbeiterkinder Aufstieg, ein Berufsumfeld mit viel Eigenverantwortung, Selbstständigkeit und Gestaltungsmöglichkeiten und eröffnete zusätzlich die Möglichkeit, später mit dem verdienten Geld ein Studium an einer Hochschule fortzusetzen. So motivierte mich der Externenpräfekt und Schulinspektor Alois Steinegger in der Sekundarschule in Schwyz und eröffnete mir eines Morgens, er habe mit meinem Vater gesprochen und mich zur Aufnahmeprüfung ans Seminar angemeldet!
Selbstständigkeit, Gestaltungsmöglichkeiten, Weiterbildungswege, andere Berufsgruppen blieben nicht stehen. Wer heute eine Berufslehre absolviert, dessen oder deren Pflichtenheft steht nicht bis zur Pensionierung fest. Vielfältig sind die innerbetrieblichen Entwicklungsmöglichkeiten, bis zu einem Hochschulabschluss reichen die Weiterbildungsangebote. Es sind die gleichen Rahmenbedingungen, die damals den Lehrberuf so einzigartig machten. Was spricht noch für den Beruf der Lehrerin, des Lehrers in einem Berufsumfeld, das für junge Menschen attraktive Angebote bereithält?
Der Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern steigt. Die Kinder geburtenstarker Jahrgänge werden jetzt eingeschult, ein hoher Anteil an 50- bis 60-jährigen Lehrpersonen geht in Pension, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner teilen sich Berufs- und Familienzeit gegenseitig auf, auch dank beruflichen Teilpensen. Ich habe kein Rezept, wie die Situation zu bewältigen wäre, aber ich vermute, dass ein paar Pflichtlektionen weniger und ein paar Franken mehr im Portemonnaie nicht genügen.
Der Lehrberuf weist Einzigartigkeiten auf. Welche Erwachsenen, ausser den Eltern, können Kindern und Jugendlichen während zehn und mehr Jahren und während rund 40 Wochen im Jahr Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen und so auf die Zukunft unserer Gesellschaft einwirken? Ja, Lehrpersonen öffnen der Jugend neue Wege, wecken Interesse, fördern Begabungen, stärken das Selbstbewusstsein und soziales Verhalten.
Das können Lehrpersonen letztlich nur, wenn sie selber in ihrem Beruf neue Wege gehen, selbstständig handeln, spontan entscheiden, ihre eigenen Stärken einbringen können. Ihre Schülerinnen und Schüler werden sich Jahre später kaum mehr an Lernziele erinnern, aber daran, wie sie fair, engagiert, aufmerksam und auf ihre speziellen Bedürfnisse ausgerichtet begleitet worden sind.
Nein, über ein Rezept verfüge ich nicht, und die Zeit, wie ich nach dem Seminar in Ried-Muotathal allein 60 Schülerinnen und Schüler über sieben Klassen in der Halbtagsschule unterrichtete, ist längst überholt. Aber ich genoss die drei Jahre im Ried, weil ich selbstständig war, selbstverantwortlich, ausser dem Zeugnisheft keine Formulare kannte, über ein Budget verfügte, um einen Ausflug zu finanzieren, meine Kolleginnen und Kollegen im Tal nie in Konferenzen, nur bei geselligen Anlässen traf und die wenigen Fragen, die meine selbst interpretierte Kompetenz zu übersteigen schienen, mit einem Telefon mit Räsels Toni zuerst und Försters Veri danach, meinen Schulpräsidenten, in wenigen Minuten regelte.
Tempi passati? Oder doch nicht ganz? Müsste man darüber nachdenken, welche Freiheiten, welche Gestaltungsräume, welche Entscheidungskompetenzen heutigen Lehrpersonen wieder einzuräumen wären, um Kindern als selbstbestimmte Vorbilder zu dienen?